Naturnahe Wälder

Urwald in Ofterdingen? Warum Wildnis für Tiere und Klima sinnvoll ist

Stand
Autor/in
Anne Jethon

Bei Ofterdingen gibt es ein Waldstück, auf das der Mensch seit Jahrzehnten keinen Einfluss mehr nimmt. Seitdem sind verschiedene Arten zurückgekommen. Was können wir daraus lernen?

Seit 40 Jahren wird ein Wald bei Ofterdingen nicht mehr bewirtschaftet. Seitdem gibt es dort deutlich mehr Lebensräume für verschiedene Lebewesen, erzählt Reinhold Gerster, Forstrevierleiter von Steinlach-Wiesaz. Aber ist er damit schon Urwald?

Mitten im naturnahen Wald stapft der Förster durch die Sträucher. Über ihm wachsen sehr alte und jüngere Bäume empor. Auf dem Boden liegen tote Baumstämme, auf manchen von ihnen wachsen Waldmeister, Moos und Pilze. Hinter der Rinde verstecken sich kleine Insektenlöcher. Reinhold Gerster ist absolut begeistert: "Cool! Totholz in allen Zersetzungsstadien, wunderschöne Pilze. Alles durchfressen. Da ist die komplette Palette an Lebensräumen geboten."

Auf einem toten Baumstamm in einem Wald bei Ofterdingen in Baden-Württemberg wachsen Pilze. Totholz ist wichtig für die Natur und viele Insekten - sie fördern die Artenvielfalt.
Totholz ist für viele Tiere, Pflanzen und Pilze ein wichtiger Lebensraum, sagt Förster Reinhold Gerster. Bild in Detailansicht öffnen
Jede Menge Totholz liegt auf einem Waldboden bei Ofterdingen in Baden-Württemberg. Ringsum sind Bäume und viel Natur. Für viele Insekten und Pflanzen ist totes Holz wichtig zum leben.
In Naturnahen Wäldern wird Totholz nicht weggeräumt. Je nach Baumart wird das Holz unterschiedlich schnell zersetzt. Bild in Detailansicht öffnen
Ein Förster kniet in einem Wald bei Ofterdingen in Baden-Württemberg neben einem toten Baumstamm nieder und zeigt auf die Maserungen am Stamm. Urwald gibt es in Baden-Württemberg nicht mehr.
Reinold Gerster zeigt, wie sich Pilze in das Holz fressen. An den schwarzen Rändern im Holz sieht man, wo sich die Pilze von anderen abgrenzen. Bild in Detailansicht öffnen

Wald wird seit 40 Jahren nicht bewirtschaftet

Mit Lebensräumen meint Gerster das Zuhause für Birkenkäfer und andere Insekten, für Pilze und Mikroben und natürlich auch: für etliche Pflanzen. "Das macht es aus, wenn man eine Ecke wirklich total stilllegt."

Total stillegen - das heißt, dass der Wald nicht bewirtschaftet wird - keine Bäume werden gefällt, kein totes Holz entfernt. Der Natur also freien Lauf lassen, ohne Einflussnahme durch den Menschen. Das funktioniert nur ganz mittendrin in dem Waldstück - denn wenn ein Baum schon länger tot ist, kann er schneller umfallen und damit zur Gefahr für Menschen werden. Seit 40 Jahren ist das Waldstück bei Ofterdingen in Nähe des Waldspielplatzes stillgelegt.

Urwald mitten in BW? Nicht ganz

Seitdem haben viele Arten ihren Platz dort gefunden. "2016 wurde hier das zweite Vorkommen der Nymphenfledermaus entdeckt - in ganz Baden-Württemberg. Die braucht nämlich urwaldähnliche Verhältnisse", erzählt Gerster stolz. Urwald? Mitten in Baden-Württemberg? Nicht ganz.

"Urwald von der Definition heißt ja: Noch nie vom Menschen wesentlich beeinflusst. Und dieser Wald hier ist sicher vom Menschen wesentlich beeinflusst", erklärt Gerster. Denn in dem Waldstück stehen viele Eichen, es gebe aber auch Linden und andere Baumarten. Früher habe man die Bäume extra dort gepflanzt, weil sie nützlich für den Menschen waren. "Der mitteleuropäische Urwald würde zu 90 % aus Buchen bestehen. Hier haben wir aber einen deutlich höheren Anteil an Eiche", erklärt Gerster.

Die SWR-Reporterin Anne Jethon war mit dem Förster Reinholf Gerster im Wald bei Ofterdingen unterwegs.

Nur noch wenige Urwälder in Europa

Wirklich viel Urwald gibt es in Europa nicht mehr. Echte wilde Wälder stehen laut einem internationalen Forschungsteam fast nur noch in Skandinavien und Südosteuropa. In Deutschland gibt es ganz wenige Ausnahmen: Die letzten wenigen Hektar Buchenwälder findet man auf der Insel Rügen und im Nationalpark Kellerwald in Nordhessen. An einigen Stellen wollen die Fachleute aber wieder in urwaldähnliche Zustände zurück, um es Insekten und anderen Käfern leichter zu machen und die Artenvielfalt zu erhöhen.

Deshalb ist Gerster gerade von Totholz ein großer Fan. Er kniet er sich neben einen alten dicken Stamm mit einer großen Aushöhlung nieder und greift hinein. In seinen Händen: ein Haufen brauner Krümel, die Erde ähneln. "Spannend! Das ist Mulm", sagt er mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Das entsteht zum Beispiel, wenn sich bestimmte Käfer durch das tote Holz fressen. "Viele Lebewesen sind auf Totholz angewiesen", sagt er. Hirschkäfer zum Beispiel bräuchten altes und dickes Totholz, um sich als Larve gut zu entwickeln. Fünf bis sechs Jahre fresse sich die Larve durch das Totholz.

Förster Gerster breitet Mulm auf einem Baumstamm aus. Insekten und andere Lebewesen haben das Holz zerfressen. Totholz und alte Bäume sind für viele Tiere wichtig zum Leben.
Förster Reinhold Gerster hat Mulm in einem toten Baumstamm gefunden. Wenn Mulm weiter zersetzt wird, wird es zu Erde.

Im Urwald werden Bäume deutlich älter

Am Rand des Waldes bleibt Gerster an einer riesigen Eiche stehen. Der Baum ist breit und wuchtig, er ragt viele Meter in den Himmel. Um ihn schlingelt sich Efeu, die Rinde ist dick. "Das ist einer meiner Lieblinge. Der Baum ist einfach gigantisch. Der hat mehr Einwohner wie der ganze Ort, so erkläre ich das Kindern." Schwarze Wegameisen leben in einer Ausbuchtung unter dem Baum, der Efeu biete den Insekten noch im November Nektar, da er spät blühe. Gerster schätzt den Baum auf zirka 300 Jahre.

Der Baum stand hier schon, als es noch keine Flugzeuge gab, keine Autos. Als hier nur Kutschen unterwegs waren.

Vielleicht sei sogar schon Napoleon an dem Baum vorbei geritten. "Das sind schon beeindruckende Zeitzeugen. Darum sind alte Wälder nicht nur für die Ökologie wichtig, sondern auch für die kommenden Generationen."

Urwaldähnliche Wälder nur teilweise sinnvoll

Würde es da nicht Sinn machen, wenn es deutlich mehr urwaldähnliche Zustände in Deutschland gäbe? Die Waldstilllegung sei zwar wichtig, um Lebewesen weitere Lebensräume anzubieten, so Gerster.

Er sagt aber auch: "Wir Menschen brauchen Holz. Wir werden wahrscheinlich unseren Holzkonsum nicht einschränken. Wo kommt es stattdessen her?" Oft komme Holz auch aus dem tropischen Regenwald oder Russland - Orte an denen nicht so naturschonend gearbeitet werde, wie in Deutschland. Je mehr in Deutschland Wald stillgelegt werde, desto mehr Umweltzerstörung gebe es an anderen Orten. Fünf bis zehn Prozent stillgelegte Fläche seien seiner Meinung nach ideal.

Einer dieser Orte ist das Waldstück bei Ofterdingen. Es hat noch einen langen Weg vor sich: "Bis der wieder absoluten Urwaldcharakter hat, wird das zwei bis drei Generationen brauchen."

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