Wann ist es ein Zwang, wann eine Marotte?

Vorurteile gegen Zwangsstörungen - Uniklinik Tübingen will damit aufräumen

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Magdalena Knöller
Magdalena Knöller

Viele, die in den Urlaub fahren, überprüfen vielleicht noch fünfmal: Ist der Herd wirklich aus? Alle Fenster zu? Das sind vermutlich aber keine Zwangsstörungen. Eine neue Webseite klärt auf.

Eine neue Webseite der Uniklinik Tübingen und des University College London ist online gegangen, die über Zwangsstörungen aufklären will. Sie richtet sich an Betroffene, ihre Angehörigen und alle, die mehr über die Erkrankung wissen wollen. Denn noch gebe es zu viele Vorurteile über Menschen mit Zwängen, so Professor Tobias Hauser. Unter seiner Leitung ist die Webseite erst auf Englisch und jetzt auf Deutsch erschienen.

Die Zwangsstörung ist eine ernstzunehmende psychische Erkrankung und keine lästige Angewohnheit.

Betroffene erzählt von ihren Zwängen

Auch Jessica Teitz aus Frankfurt, Mitglied im Vorstand der "Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen", hat als Betroffene an dem Forschungsprojekt und der Webseite mitgewirkt. Sie hat dem SWR von ihrem Leidensweg erzählt und macht auf Instagram Menschen Mut, indem sie darüber spricht. Etwa eine Million Menschen leiden in Deutschland unter Zwangsstörungen. Neben Depressionen und Angststörungen gehören sie zu einer der häufigen psychischen Erkrankungen.

Es gab mal eine Zeit, da saß ich wirklich nur auf der Couch zu Hause und habe nur vor mich hingestarrt.

Professor Tobias Hauser von der Uniklinik Tübingen und Jessica Teitz als Betroffene von Zwängen machen eine Instagram-Story. Beide klären im Internet über OCD - deutsch Zwangsstörungen - auf und wollen so Vorurteile abbauen.
Die beiden eint ihr Engagement, über Zwangsstörungen öffentlich aufzuklären und gegen Tabus anzukämpfen: Jessica Teitz als Betroffene und Tobias Hauser als Forscher - gemeinsam in einer Instagram-Story.

Waschzwang als Beispiel für Zwangsgedanken und -handlungen

Wer zum Beispiel einen Waschzwang hat und stundenlang unter der Dusche steht oder so lange seine Hände wäscht, bis sie wund werden, leidet. Und zwar doppelt laut dem Team um den Tübinger Neurowissenschaftler Professor Tobias Hauser. Sie leiden enorm unter den Zwängen, die immer stärker werden, und an den Vorurteilen ihres Umfeldes. Oft müssen sie Sätze hören wie: "Jetzt hab dich mal nicht so und lass es doch einfach!".

Ich habe eine ältere Dame begleitet, die einen minutiösen Plan hatte, welches Körperteil wie zu waschen ist. Sie hat sich ohne Assistenz gar nicht mehr von der Dusche lösen können.

Menschen mit Zwangsstörungen können die Zwänge nicht einfach lassen, sagt der Psychologische Psychotherapeut Professor Andreas Wittorf. Er leitet seit 14 Jahren die Spezialambulanz für Zwangsstörungen an der Uniklinik. Menschen mit der Diagnose "OCD" (Obsessive Compulsive Disorder) - auf Deutsch Zwangsstörungen - sind krank und ernstzunehmen. Sie brauchen Unterstützung von ihrem Umfeld und von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten - und womöglich auch Medikamente, sogenannte Antidepressiva.

"Ich konnte irgendwann mein Zuhause nicht mehr verlassen"

Jessica Teitz ist 45 Jahre alt und hat inzwischen nach vielen Therapiestunden und Konfrontationen mit ihren Zwängen ihre Zwangsstörungen im Griff, erzählt sie. Als sie zwischen 20 und 30 Jahre alt war, wurden ihre Zwangsgedanken und Zwangshandlungen immer stärker. Schuld und Scham waren ein großes Thema für sie. Und die Angst, sich und andere mit etwas anstecken zu können, zum Beispiel weil sie im Bus den Halteknopf berührt hat.

Wenn sie morgens zur Arbeit aufbrechen wollte, stand sie minutenlang vor dem Herd, um zu schauen, ob er wirklich aus ist. Danach beim Wasserkocher, dann beim Bügeleisen, obwohl sie es gar nicht benutzt hatte. "Der Zwang wurde immer kreativer und hat sich immer weiter gesteigert. Plötzlich trat beim Autofahren der Gedanke auf: 'Oh Gott, habe ich vielleicht vorhin jemanden aus Versehen überfahren?'" Sie kam immer häufiger zu spät zur Arbeit. Bis sie irgendwann die Wohnung gar nicht mehr verlassen konnte.

Jessica Teitz im Gespräch mit Professor Andreas Wittorf, dem Leiter der Spezialambulanz für Zwangsstörungen der Uniklinik Tübingen. Sie haben sich über Therapie-Möglichkeiten und die neue Webseite "OCD and the Brain" ausgetauscht.
Jessica Teitz hat ihren Besuch in Tübingen genutzt, um mit Professor Andreas Wittorf, dem Leiter der Spezialambulanz für Zwangsstörungen, als Betroffene zu sprechen und sich über ihre Erfahrungen mit Therapie-Möglichkeiten auszutauschen.

Wenn bei einem Menschen ein Zwang mehr als eine Stunde Zeit einnimmt, spricht man von einer Zwangserkrankung. Man sollte sich so früh wie möglich Hilfe holen, bevor sich die Zwänge verstetigen.

Verhaltenstherapie kann gegen Zwangsstörungen helfen

Das Mittel der Wahl laut Andreas Wittorf und Jessica Teitz, die selbst die Erfahrung gemacht hat und von einem "Gamechanger" spricht: eine sogenannte Kognitive Verhaltenstherapie mit Exposition und Reaktionsmanagement. Das heißt, Patientinnen und Patienten setzen sich im Beisein ihres Therapeuten oder ihrer Therapeutin ihren Ängsten und den damit verbundenen Zwängen aus. Professor Wittorf läuft beispielsweise immer wieder mit Patienten durch Tübingen. Sie drücken gemeinsam Ampelknöpfe, fassen Türklinken oder Treppengeländer an oder fahren gemeinsam Bus.

Von geheilt kann ich nicht sprechen, weil die Zwangsstörung eine chronische Erkrankung ist. Aber ich habe gelernt, ein schönes Leben damit zu leben.

Die Uniklinik Tübingen will mit einer neuen Webseite eines Forschungsprojektes zu OCD - deutsch Zwangsstörungen - mit Vorurteilen gegen Menschen mit dieser psychischen Erkrankung vorgehen und klärt über die Mechanismen im Gehirn auf.
Unter der Leitung von Professor Tobias Hauser ist die englische und deutsche Webseite über "OCD and the Brain" entstanden. An den Recherchen, Texten und Videos waren auch von Zwangsstörungen betroffene Patienten und Angehörige beteiligt.

"OCD and the Brain": aufklären gegen Vorurteile

Auch wenn viele Menschen an Zwangsstörungen erkranken, weiß man in der Forschung noch relativ wenig, sagte Tobias Hauser dem SWR. Auch deshalb, weil die Zwänge oft im Geheimen zu Hause stattfinden. Klar sei jedoch, dass Zwangsstörungen mit dem Gehirn zusammenhängen - genauer gesagt, mit den Netzwerken zwischen dem Frontallappen direkt hinter der Stirn und tieferen Hirnregionen, so Hauser. Diese scheinen bei an OCD erkrankten Menschen anders zu funktionieren als bei Menschen mit einfachen Marotten.

Die neue Webseite will die psychische Erkrankung öffentlich bekannter machen, erklären, wie sie entsteht und Vorurteile ausräumen. Die Webseite heißt wie der gleichnamige Instagram-Account "OCD and the Brain".

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