Im Streit um gekürzte Kita-Öffnungszeiten in Tübingen hat Oberbürgermeister Boris Palmer (grüne Parteimitgliedschaft ruht derzeit) vorgeschlagen, ukrainische Flüchtlingskinder in Spielgruppen statt in Kitas unterzubringen. "Momentan haben die Kinder von Geflüchteten das gleiche Recht auf einen Kita-Platz wie alle anderen. Da kann man Abstriche machen", sagte Palmer in einem Interview der Wochenzeitung "DIE ZEIT", das als Gespräch mit betroffenen Tübinger Eltern geführt wurde.
"Abholstreik" und Sanktionen Eltern und BW-Kommunen streiten wegen Kita-Öffnungszeiten
An Kitas in Baden-Württemberg fehlt Personal und Plätze, manche schließen früher. Nun holen holen Eltern ihre Kinder aus Protest zu spät ab - einige Städte führen Sanktionen ein.
Palmer: Vorschlag könnte diskriminierend wirken
Wer neu in Tübingen ankomme, benötige nicht dasselbe Betreuungsangebot wie beispielsweise die alleinerziehende berufstätige Mutter, die bei dem Gespräch dabei war. Palmer sagte weiter: "Mir ist klar, dass mir so ein Vorschlag den Vorwurf der Diskriminierung einbringen würde, aber er entlastet die Kitas."
Auf Rückfrage der Mutter sagte der Oberbürgermeister, er behaupte nicht, die Geflüchteten seien das Problem. "Ich sage nur: Irgendwo müssen wir kürzen. Das Problem ist, man kann einem Nackten nicht in die Tasche greifen."
Langfristiges Ziel: Integration der Flüchtlings-Kinder
"Das Gebot der Stunde heißt Pragmatismus", sagte Migrationsministerin Marion Gentges (CDU) der Deutschen Presse-Agentur (dpa) zu Palmers Vorstoß. Jeder Vorschlag, der darauf ziele, das Problem zu lösen, sei zunächst einmal ein guter Beitrag, der es wert sei, zu Ende gedacht zu werden, sagte Gentges. "Wir brauchen pragmatische und schnelle Maßnahmen, auch wenn es bedeutet, dass wir bei unseren selbst gesetzten hohen Ansprüchen Abstriche machen müssen."
Auch der Gemeindetag Baden-Württemberg hält das Spielegruppen-Modell nicht für undenkbar. "Spielgruppen für ukrainische Kinder als zusätzliche Betreuungsform können sinnvoll sein, weil sie den Kindern den Kontakt zu anderen Kindern ermöglichen und Eltern stundenweise entlasten können", sagte ein Sprecher der dpa. Langfristig müsse aber die Integration das Ziel sein. Heißt: "Dass Kinder mit Fluchterfahrung wie alle Kinder den Zugang zur frühkindlichen Bildung haben und die Möglichkeit bekommen, die deutsche Sprache und Kultur zu erlernen, um hier gut anzukommen."
Laut Gemeindetag gibt es das Format der Spielgruppe in Baden-Württemberg schon sehr lange. Schon seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine kämen solche Gruppen als ein erstes Angebot der sozialen Betreuung wieder verstärkt in den Blick.
Das Kultusministerium in Stuttgart verwies ebenfalls darauf, dass das Konzept der Spielgruppen nicht neu sei. "Auch bei der jetzigen Fluchtbewegung aus der Ukraine gehören diese zu den Betreuungsangeboten wie auch die neue Form der Kita-Einstiegsgruppen", sagte ein Ministeriumssprecher. Langfristig sei es aber wichtig, dass zugewanderte Kinder integriert werden - und das bedeute vor allem, die deutsche Sprache gemeinsam mit hier geborenen Kindern zu erlernen. "Daher sind Spielgruppen mehr eine Not- denn eine Dauerlösung." Der Sprecher wies außerdem daraufhin, dass von Beginn an kommuniziert worden sei, "dass eine Aufnahme ukrainischer Kinder im Rahmen freier Plätze möglich ist."
Spielgruppen-Modell: Kaum Widerstand durch BW-Parteien
Auch die SPD weist den Vorschlag aus Tübingen nicht zurück. "Kinder sind Kinder und brauchen ihre Kita", sagte der SPD-Fraktionsexperte für frühkindliche Bildung, Daniel Born. Mit Blick auf den Mangel an pädagogischem Fachpersonal könne man aber überlegen, für Geflüchtete aus der Ukraine Spielgruppen einzurichten. "Für ukrainische Familien kann in der aktuellen Situation ein kurzes Betreuungsangebot schon hilfreich sein, das niederschwellig und flexibel Angebote für Kleinkinder und Räume zum Spielen bereitstellt", sagte Born der dpa. Auf längere Sicht sei das hingegen keine Lösung.
Die Grünen-Fraktion nannte den Vorschlag einen "alten Hut". "Schon 2022 haben wir ein niedrigschwelliges Angebot geschaffen, um Kinder zu betreuen", betonte der Sprecher. Wichtig sei, den Menschen aus dem Kriegsgebiet einen stabilen Rahmen in einer angenehmen Umgebung bieten zu können.
Für die FDP-Fraktion sagte der Sprecher für frühkindliche Bildung, Dennis Birnstock: "Angesichts der Tatsache, dass die Kindertagesstätten in Baden-Württemberg spätestens seit der Corona-Krise absolut am Limit arbeiten, kurzfristige Schließungen sowie lange Wartezeiten auf Kita-Plätze keine Seltenheit sind, kann die Unterbringung geflüchteter ukrainischer Kinder in Spielgruppen vor allem kurzfristig eine notwendige Entlastung der Kindertagesstätten und Eltern bedeuten." Die Landesregierung dürfe sich dabei nicht hinter den Kommunen verstecken und müsse Städte und Gemeinden "durch flexible Regelungen" unterstützen.
Die sozialpolitische AfD-Fraktionssprecherin Carola Wolle teilte mit, Palmers Vorschlag sei "voll und ganz zuzustimmen".
Tübingens OB Boris Palmer polarisiert
Palmers aktueller Vorschlag erinnert an einen Vorstoß aus dem vergangenen Jahr. Im November hatte Tübingens OB kritisiert, dass Deutschland mit seinen Leistungen ukrainische Geflüchtete anziehe. In diesem Zusammenhang hatte er "Nothilfe statt Integration" angeregt. Seine Idee: Statt viel Geld in Sprachkurse, Kita- oder Schulplätze für ukrainische Geflüchtete zu stecken, sei es auch möglich, sie unter sich in ihren Unterkünften zu lassen. Viele Flüchtlinge würden sowieso schnell in ihre Heimat zurückwollen.
Der oft polarisierende Palmer hatte im Januar seine dritte Amtszeit als Oberbürgermeister in Tübingen angetreten. Seine Mitgliedschaft bei den Grünen ruht bis Ende 2023 wegen eines Streits um Tabubrüche und Rassismusvorwürfe.
Der Fachkräftemangel in Kitas beschäftigt derzeit landesweit Eltern und die Politik. Das Thema hatte regional neue Brisanz bekommen mit der Entscheidung des Tübinger Gemeinderats, dass zahlreiche Kitas in der Stadt künftig wegen Personalmangels die Öffnungszeiten verkürzen müssen. Viele Eltern bringt das in die Bredouille, ganze 50 Gruppen der städtischen Kitas schließen dann schon um 13:15 Uhr. Auch in anderen Städten kündigten einzelne Kindertagesstätten an, demnächst früher schließen zu müssen.