Seit den Schüssen am Sonntagmittag in Haus einer Familie in Albstadt-Lautlingen (Zollernalbkreis) ist die Welt eine andere. Neben Angehörigen, die die mutmaßliche Gewalttat des 63-jährigen Familienvaters überlebt haben, müssen auch Nachbarinnen und Nachbarn mit den Erfahrungen zurechtkommen, die sie unfreiwillig gemacht haben. Sei es, weil sie die Schüsse im Haus nebenan oder gegenüber gehört oder aus dem Fenster geschaut haben. Oder weil sie gar den beiden schwer verletzten, von Schüssen getroffenen Frauen geholfen haben.
Für sie standen am Montagabend kirchliche Notfallseelsorgerinnen und Ehrenamtliche des Notfallnachsorgedienstes des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) für Gespräche bereit. Einer von ihnen ist Frank Steiner: Er ist evangelischer Pfarrer und Notfallseelsorger im Dekanat Balingen (Zollernalbkreis). Im Gespräch mit dem SWR hat er erzählt, wie er die Situation der direkten Anwohnerinnen und Anwohner der Familie in Albstadt-Lautlingen wahrgenommen hat und womit sie in nächster Zeit und vermutlich ein Leben lang umgehen müssen.
Notfallseelsorger hilft Menschen in Albstadt - und hat selbst Schüsse erlebt
Der Pfarrer lebte vor Jahren in Israel. Und hat dort selbst Schüsse fallen hören. Das wird er nie wieder vergessen und vergessen können. Er weiß zum Beispiel, was es heißt, die ersten Jahre danach Silvester mit Feuerwerk- und Böllergeräuschen zu feiern. Spätestens dann holen einen die Erinnerungen ein, sagt Steiner. Denn auch im Gespräch mit den Menschen aus Lautlingen wurde klar: Was sich am meisten eingeprägt hat, sind die Sinneseindrücke. Was haben Nachbarn gehört und gesehen - vielleicht sogar auch gerochen.
Frank Steiner hat ihnen als Notfallseelsorger empfohlen, sich diesen Sinneseindrücken und den damit verknüpften Gefühlen zu stellen. "Man muss lernen, das Erlebte anzunehmen. Denn es gehört nun zum eigenen Leben", so der Pfarrer. Mit der Zeit würden die Erinnerungen daran schwächer werden. Deshalb sei es auch sehr wichtig, dem Ganzen Zeit zu geben. Und auf das, was in einem steckt, zu vertrauen. Dazu gehört auch Stille und Stille-Aushalten.
Nach den tödlichen Schüssen in Albstadt: Wie als Nachbar den Tatort aushalten?
Viele Nachbarn und Anwohner in Albstadt-Lautlingen neigen vermutlich derzeit dazu, einen möglichst großen Bogen um das Wohnhaus der Familie zu machen. Dort starben am Sonntag drei Menschen: der Sohn, die Schwiegermutter und der mutmaßliche Schütze. Der Seelsorger empfiehlt, den Tatort nicht zu ignorieren - auch ihn auszuhalten. Denn klar ist: Früher oder später kommt man an dem Haus vorbei oder man sieht es aus dem Küchenfenster.
"Vielleicht geht oder fährt man in der ersten Zeit schnell daran vorbei und später dann immer langsamer, um sich dem zu stellen", sagt Steiner. Er traue das den Menschen zu, die er am Montagabend begleiten durfte. Sie hätten bereits am Tag nach den Schüssen geschafft, mit der Aufarbeitung zu beginnen. Und das gemeinsam, indem sie sich getroffen haben. Das mache das Erlebte leichter. Die Menschen hätten miteinander darüber gesprochen und gemeinsam geschwiegen.
Neue Hinweise auf Motiv Tödliche Schüsse in Albstadt-Lautlingen: Hatte der mutmaßliche Schütze Schulden?
Im Fall der tödlichen Schüsse in Albstadt-Lautlingen (Zollernalbkreis) hat die Polizei neue Erkenntnisse. Der Familienvater war offenbar in psychologischer Behandlung.
"Seid der Angst dankbar, die ihr am Sonntag hattet"
Mit Sinneseindrücken sind immer auch Emotionen verbunden, erklärt Frank Steiner. Angst war zum Beispiel am Sonntagmittag ganz präsent. Viele hielten Angst für ein negatives Gefühl, meint Steiner. Er habe den Anwohnerinnen und Anwohnern dagegen gesagt: "Seid der Angst dankbar, denn sie hat euch davor bewahrt, euch selbst in Gefahr zu bringen."
Darüber hinaus hätten viele Nachbarn, als sie die Schüsse hörten, gut und richtig gehandelt, zum Beispiel, indem sie den Notruf abgesetzt oder andere dazu aufgefordert haben, den Notruf abzusetzen. Manche hätten das Geschehen aufmerksam beobachtet und andere gewarnt. Ein Nachbar soll wohl auch direkt in der Situation geholfen haben. Mehr Details konnte und wollte der Notfallseelsorger aus Diskretion nicht nennen. Er habe jedenfalls eine "starke Nachbarschaft" erlebt.
Die Frage nach dem "Warum" in Albstadt-Lautlingen
Gerade bei den Menschen, die die Familie näher und gut gekannt haben, sei die Frage nach dem "Warum" sehr präsent. Steiner gibt zu bedenken, dass diese Frage auch nach Klärung des Motivs des 63-jährigen Familienvaters und mutmaßlichen Schützen nie ganz sicher beantwortet werden kann. Man könne sich der Antwort maximal nur annähern. Unbeantwortete und unbeantwortbare Fragen seien generell für Menschen schwer auszuhalten, weiß der Seelsorger.
Für diejenigen, für die Montagabend vielleicht noch zu früh oder ein Treffen mit anderen Betroffenen nicht das ist, wonach ihnen war: Sie können sich jederzeit an die integrierte Leitstelle (Telefon: 19 222) wenden und um einen kirchlichen Seelsorger oder Ehrenamtlichen des weltanschaulich neutralen Notfallnachsorgedienstes des DRK bitten. Dann kommt zügig jemand zu ihnen nach Hause. Und, das sagte Frank Steiner dem SWR auch: So ein gemeinsamer Abend könne jederzeit noch einmal angeboten und organisiert werden - vorausgesetzt, der Bedarf ist da.