"Wir können nicht therapieren, nur begleiten und allein das ist schon eine große Hilfe", sagt Martina Rudolf-Zeller. Die 61-jährige Sozialpädagogin leitet die Stuttgarter Telefonseelsorge seit neun Jahren. Das letzte Beratungsgespräch, das sie besonders berührte, führte sie in einem Spätdienst. Ein junges Mädchen rief an. Sie fühlte sich einsam, trauerte um ihre Mutter und vermisste ihren Vater, der bei der Arbeit war. "Wir konnten das Gespräch aber so abschließen, dass sie ruhig einschlafen konnte", erzählt Martina Rudolf-Zeller und strahlt.
Immer mehr Jüngere engagieren sich
Das Team der Stuttgarter Seelsorge zählt etwa 120 Mitarbeitende, drei von vier sind Frauen. Alle haben eine zweijährige Schulung hinter sich und stehen im Schichtwechsel rund um die Uhr zur Verfügung. Anonym, vertraulich und kostenfrei. Die meisten Ehrenamtlichen sind älter als 50 Jahre, manche arbeiten in Teilzeit, andere sind in Rente. Doch auch immer mehr Jüngere engagieren sich in der Telefonseelsorge. Einer von ihnen ist Alex. Er ist 35 Jahre alt und seit fünf Jahren dabei. "Ihn erfülle dieses Ehrenamt", erzählt der Familienvater, "denn die Begegnungen und Gespräche sind einzigartig. Ich fühle mich beschenkt, wenn Menschen mir ihre Not, ihre Trauer, ihre Einsamkeit anvertrauen. Das gibt mir Kraft."
Ob Mobbing in der Schule, Ehekrise, Probleme am Arbeitsplatz, Einsamkeit, Angst, Sucht, Krankheit oder Suizidalität - die Mitarbeitenden sind sorgfältig ausgewählt und in einer zweijährigen Ausbildung auf alle Themen, die ihnen in den Beratungsgesprächen begegnen, vorbereitet. Christine ist 69 Jahre alt und möchte in der Telefonseelsorge mitarbeiten. Ein Jahr Schulung hat sie bereits hinter sich. Sie weiß aus eigener Erfahrung, wie wichtig Gespräche sind, um Wege aus der Krise zu finden.
Viele Ehrenamtliche haben eigene Krisenerfahrungen
"Immer mehr Menschen suchen nach jemandem, der zuhört und ich höre gern zu", erklärt die ehemalige Sonderschullehrerin. Wie Christine haben viele ehrenamtliche Mitarbeitende eigene Krisenerfahrungen hinter sich. Gabriele beispielsweise hat eine Tochter, die zeitweise suizidgefährdet war und einen Partner, der an Depressionen leidet. Es gibt wohl niemanden, sagt eine Mitstreiterin, der das Thema Angst nicht in irgendeiner Lebensphase erlebt hat. Und Erik, 54 Jahre alt, spürt in sich ein großes Bedürfnis zu helfen.
Manchmal gehen uns auch die Nöte der Ratsuchenden noch eine ganze Weile nach, erklärt ein anderer Mitarbeitender. Ein Mädchen rief an und erzählte, dass sie schwanger sei und nicht wisse, wie sie es ihren Eltern erzählen sollte. "Sie war sehr verzweifelt und ich würde noch heute gern wissen, ob sie mit ihren Eltern ins Gespräch kommen konnte. Aber das werde ich wohl nie erfahren." Doch die Anonymität erleichtert vielen Menschen sich zu öffnen, sich alles von der Seele zu reden, ihr Innerstes preiszugeben, Masken fallen zu lassen und zuzugeben, dass man nicht mehr weiter weiß.
13.000 Menschen riefen bei Telefonseelsorge in Stuttgart an
Rund 1,2 Millionen Menschen haben im vergangenen Jahr in Deutschland per Anruf Hilfe gesucht. Allein in Stuttgart meldeten sich 13.000 Anruferinnen und Anrufer. Tausende Mails und Chats gingen in der Zentrale der Landeshauptstadt ein. Neben den Themen Krieg gegen die Ukraine und Existenzsorgen geht es bei vielen immer wieder um eins: Sie fühlen sich allein. Jeder vierte Anruf dreht sich um das Thema Einsamkeit. Nach Corona sind viele erschöpft, auch emotional. Viele Anruferinnen und Anrufer berichten, Schwierigkeiten zu haben, wieder in Kontakt mit anderen zu kommen. "Gerade jüngere Menschen äußern regelmäßig im Chat Suizidgedanken, aber auch, dass sie sich unter starkem Druck fühlen und sich selbst verletzen, ritzen, mit Rasierklingen, Messern, Nadeln oder ähnlichem."
Doch wo sind Eltern, Lehrer, Paten oder Freunde? Warum fühlen sich immer mehr Menschen, ob jung oder alt, so alleingelassen? Und warum haben immer weniger Menschen Zeit, Anderen zuzuhören? Die Mitarbeitenden lernen vor allem eins: Zuhören und Krisengespräche zu führen. Wie begegnet man Menschen, die sich einsam fühlen, um Angehörige trauern oder dem Leben ein Ende setzen wollen? Wie stellt man in kurzer Zeit Vertrauen und Nähe am Telefon oder im Chat her? Und wie kommt man in eine Beziehung, die hilfreich ist, trotz oder gerade wegen der bestehenden Anonymität? "Das kann man lernen", sagt Ausbilderin Martina Rudolf-Zeller.
"Richtiges Zuhören, empathisches Zuhören wird in unseren Schulungen gelehrt. Was ist eine gute Gesprächshaltung oder Methodik? Und vor allem höre ich erstmal zu, frage nicht, lasse die Person kommen, manchmal mit Weinen, manchmal mit Schweigen und dann entlastet das Erzählenkönnen." Offen reden zu können, das macht das starke Team der Telefonseelsorgerinnen und -seelsorger möglich und kann dabei vielleicht auch Leben retten.