Am vergangenen Freitag berichtete der SWR über die neuen Pläne und Strategie der Bahn-Tochter DB InfraGO, wonach die Digitalisierung der Infrastruktur und des Streckennetzes weitgehend gestoppt werden soll. Politiker und Experten reagierten irritiert bis entsetzt. Doch was steckt eigentlich hinter dem Gedanken, das Streckennetz zu digitalisieren? Was hängt alles daran und welche Folgen hätte ein Digitalisierungsstopp? Ein Überblick:
- Was bringt das für Fahrgäste?
- Welche Folgen hätte ein Digitalisierungsstopp?
- Was hängt alles dran?
- Wie groß ist der Nutzen?
- Was ist mit dem bisherigen Bahn-System?
- Welche Strecken sind betroffen?
- Ist die Strategie schon beschlossen?
- Was ist mit dem Bahn-Dementi?
- Warum könnte ein Stopp gut sein?
- Wie gehen Nachbarländer mit der Digitalisierung um?
Was bedeutet die Digitalisierung für die Fahrgäste?
Für die Fahrgäste soll die Digitalisierung einen zuverlässigeren und enger getakteten Zugverkehr ermöglichen. Der erste große Bahnknoten, der digitalisiert wird, wird gerade mit Stuttgart 21 umgesetzt. Sobald Stuttgart 21 in Betrieb geht, sollen zum Beispiel S-Bahnen im dichteren Takt durch den Innenstadttunnel fahren können. Würde deutschlandweit die Digitalisierung weiter ausgebaut werden, würde sich dieser Effekt Stück für Stück aufs ganze Land auswirken. Dann würden auch mehr Züge zwischen Metropolen wie Stuttgart, Mannheim, Frankfurt oder Köln verkehren können.
SWR Aktuell-Moderator Georg Bruder erklärt, was die Vorteile der neuen, digitalen Technik sind:
Welche Folgen hätte ein Stopp für Baden-Württemberg?
Würde der deutschlandweite Ausbau der digitalen Technik vorerst gestoppt werden, würde Baden-Württemberg ein Land mit mindestens drei unterschiedlichen Zugleitsystemen werden. Der Digitale Knoten Stuttgart würde zwar umgesetzt werden, aber Lokführerinnen und Lokführer müssten vorerst dauerhaft im Großraum Stuttgart mit ihren Zügen zwischen dem neuen digitalen System und den beiden Vorläufersystemen wechseln. Der Bahn-Experte Hans Leister erklärt: "Je mehr verschiedene Systeme man betreibt, umso fehleranfälliger wird das Bahn-System." Stuttgart würde ein hochmoderner Bahnknoten werden (mit mehr S-Bahn-Verkehr), während sich drum herum der Bahnverkehr zurückentwickeln würde.
Was hängt alles an der Digitalisierung?
Die Digitalisierungsstrategie der Bahn im Rahmen der "Digitalen Schiene Deutschland" betrifft laut Experten und Bahnverantwortlichen drei Bereiche: Stellwerke, Zugsicherungssystem und Fahrzeugausrüstung. Die Digitalisierung der Stellwerke soll für mehr Zuverlässigkeit im Betrieb sorgen. Weichen- und sonstige Störungen sollen seltener vorkommen oder ganz der Vergangenheit angehören. Die Digitalisierung des Zugsicherungssystems mit dem European Train Control System (ETCS) soll mittelfristig herkömmliche Signalanlagen überflüssig machen, da der Lokführer alle Anweisungen direkt auf einen Bildschirm im Führerstand angezeigt bekommt. Dafür müssen aber auch die ganzen Fahrzeuge, die auf den digitalisierten Abschnitten fahren sollen, mit ETCS ausgerüstet sein.
Der Plan der Bahn ist, bis 2030 ETCS und digitale Stellwerke zum neuen Standard ausgerüstet zu haben. Es ist möglich, dass die Umrüstungen getrennt erfolgen. Eine Strecke, die noch kein digitales Stellwerk hat, kann dennoch auf ETCS umgerüstet werden und mit elektronischen Stellwerk betrieben werden. Laut Experten ist aber nur in der Kombination von digitalen Stellwerken und ETCS eine Kapazitätssteigerung im Bahnverkehr möglich.
Wie groß ist der Nutzen der Digitalisierung?
Gerade das Thema Kapazitätssteigerung ist umstritten. Ob bis zu 30 Prozent mehr Zugverkehr möglich sind, wie es die Bahn ankündigt, ist für viele fraglich. Aber über die meisten Parteigrenzen hinweg ist man sich einig, dass die Digitalisierung der Bahn kommen muss. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Donth aus Reutlingen sagt dazu: "Selbst wenn es nur 10 oder 20 Prozent Kapazitätssteigerung wäre, würde es sich schon lohnen." Auch Matthias Gastel, Grünen-Bundestagsabgeordneter aus Nürtingen und Vertreter im Aufsichtsrat der DB InfraGO, erklärte: "Es geht darum, dass wir diese störanfälligen Signale wegbekommen. Es geht darum, dass wir zukunftsfähige Technologien für die nächsten Jahrzehnte zustande bringen. Es geht darum, dass wir Stellwerke ablösen, die einen sehr hohen Bedarf an Personal haben - an Personal, das wir zunehmend überhaupt nicht mehr finden."
Was ist mit dem bisherigen System bei der Bahn?
In vielerlei Hinsicht gilt die Technik bei der Deutschen Bahn als veraltet. Das betrifft unter anderem die Stellwerke, denn nach wie vor sind mechanische Stellwerke aus der Zeit des Kaiserreichs mit Seilsystemen zum Stellen der Weichen und Signale im Einsatz. An vielen wichtigen Knotenpunkten sind wiederum noch sogenannte Relais-Stellwerke aus den 1970er-Jahren in Betrieb wie etwa in Stuttgart das Stellwerk von 1977.
Aber auch die Art, wie die Züge mit Signalen über die Gleise geleitet werden, gilt als veraltet. Bei der sogenannten Induktive Zugbeeinflussung (Indusi) beziehungsweise Punktförmigen Linienzugbeeinflussung (PZB) wird mithilfe von Überwachungsmagneten, die im Gleis verbaut sind, die Geschwindigkeit der Züge kontrolliert. Das System gilt als sicher und weitestgehend zuverlässig, aber setzt große Abstände zwischen den Zügen voraus. Die Indusi ist eine Technik, die seit 1934, also seit genau 90 Jahren, eingesetzt wird. Auch das System für Hochgeschwindigkeitsfahrten, die sogenannte Linienförmige Zugbeeinflussung (LZB), die bereits computergesteuert funktioniert, ist seit den 1980er-Jahren im Einsatz. Durch die Digitalisierung würden alle Systeme durch ein neues einheitliches System, nämlich durch ETCS, ersetzt werden.
Welche Strecken und Projekte sind betroffen?
Vieles deutet darauf hin, dass die Bahn all diejenigen Digitalisierungsprojekte stoppen möchte, die sich noch nicht in der Umsetzung befinden. Das heißt, dass die Digitalisierung auf Strecken wie der Riedbahn, zwischen Karlsruhe und Basel oder zwischen Flensburg und Maschen weiter umgesetzt werden. Projekte, die nach SWR-Informationen gestoppt werden sollen, ist unter anderem die Ausrüstung der Strecke Frankfurt - Köln, darunter auch das geplante digitale Stellwerk am Bahnhof Montabaur in Rheinland-Pfalz sowie große Teile des sogenannten Skandinavien-Mittelmeer-Korridors. Darunter fällt auch das "Rosenheimer Kreuz" in Bayern - ein Verkehrsprojekt, das im Rahmen des neuen Nordzulaufs zum Brenner-Basistunnel umgesetzt wird. Nach Unterlagen aus dem Freistaat Bayern, die dem SWR vorliegen, soll die Digitalisierung des Rosenheimer Kreuzes wohl nicht vor 2038 erfolgen.
Ist das neue Strategie-Papier der DB InfraGO schon beschlossen?
Nein. Bisher handelt es sich lediglich um ein Konzept, das die DB InfraGO als neue Strategie vorstellt, die sie umsetzen möchte. Aber sowohl der Aufsichtsrat der Bahn wie auch das Bundesverkehrsministerium könnte auf die neue Strategie Einfluss nehmen. Politiker wie der baden-württembergische Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) sowie der schleswig-holsteinsche Verkehrsminister Claus Ruhe Madsen (CDU) fordern nun ein Handeln der Bundespolitik, um die Pläne der DB InfraGO zu verhindern.
Was ist mit dem Dementi der Bahn zum SWR-Bericht?
Die Bahn hat in einem Statement am Freitag die Berichterstattung des SWR, wonach die Digitalisierung in Deutschland vorerst gestoppt wird, dementiert. Die Verkehrsminister von Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein bestätigen jedoch die Recherche des SWR. Die neuen Pläne, die meisten Digitalisierungsprojekte vorerst auf Eis zu legen, wurde von Vertretern der DB InfraGO den Vertretern von Bund und Ländern vorgestellt. Der SWR hatte am Freitag die Bahn um Stellungnahme gebeten, was genau am SWR-Bericht falsch ist. Eine konkrete Antwort auf die Fragen des SWR hat die Bahn nicht gegeben.
Bahn-Experten wie Hans Leister haben das Dementi der Bahn und ihre Antwort an den SWR geprüft. Leisters Fazit: "Das Dementi der Bahn lässt tief blicken." Denn die Bahn würde keine der großen geplanten Digitalisierungsprojekte ansprechen, die nach SWR-Recherchen gestoppt werden sollen. "Das wird letztlich mit dem Dementi bestätigt, sonst hätte man ein klareres Dementi gemacht. Es steht eben nicht drin: Wir setzen weiter auf baldmögliche, schnelle Erneuerung des gesamten Stellwerksparks mit digitalen Stellwerken und ETCS."
Die Bahn erklärte am Freitag dem SWR auf Nachfrage, dass die Technologie für digitale Stellwerke noch in der Entwicklung sei und daher teilweise noch nicht standardmäßig gebaut und zugelassen werden könne. Tatsächlich sind bereits digitale Stellwerke gebaut, zugelassen und in Betrieb genommen, zum Beispiel in Warnemünde und Donauwörth. Dem SWR liegt außerdem aus dem Jahr 2021 eine Vorgabe der Bahn vor, dass alle neuen Projekte mit der Technik von digitalen Stellwerken ausgerüstet werden sollen.
Warum könnte ein Stopp der Digitalisierung gut sein?
Es gibt auch Vertreterinnen und Vertreter, die einem möglichen Stopp der Digitalisierung nicht abwehrend gegenüber stehen. Dass man bis 2030 den Großteil des Schienennetzes digitalisiert habe, sei unrealistisch. In Zeiten, in denen die Bahn so viele Probleme mit Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit hat, müsse die Generalsanierung erst mal priorisiert werden. Im Zweifelsfall mit Technik, die zuverlässig funktioniert. Für Felix Berschin, Verkehrsplaner aus Heidelberg, sei die neue Strategie nachvollziehbar. "Aktuell sind digitale Stellwerke bei den Mondpreisen der wenigen Anbieter sowie extremen Engpass bei Abnahmeingenieuren eine sehr unerfreuliche Angelegenheit", so Berschin.
Es gab bisher auch immer wieder Probleme bei der Digitalisierung. Das System ETCS hat immer wieder zu Ausfällen im Bahnverkehr geführt (der SWR hat berichtet). Die Bauarbeiten am Digitalen Knoten Stuttgart sorgen dafür, dass das Großprojekt Stuttgart 21 sich um mindestens ein weiteres Jahr verzögert. Die Strategie der Digitalisierung wird von vielen als unkoordiniert und chaotisch wahrgenommen. So hat erst im Juli der Verbund von Güterbahnunternehmen DIE GÜTERBAHNEN das Bundesverkehrsministerium aufgefordert, bei der Digitalisierung die Führung zu übernehmen, um eine geordnete Einführung von digitalen Stellwerken und ETCS zu ermöglichen.
Fernzüge müssen Umweg fahren S21: Bahn gibt Probleme beim Digitalen Knoten Stuttgart zu
Mit dem digitalen Sicherungssystem, das im neuen Bahnknoten Stuttgart verbaut werden soll, treten immer wieder Probleme auf. Die Bahn räumt ein: Probleme sollen angegangen werden.
Wie gehen Nachbarländer wie die Schweiz bei der Digitalisierung vor?
Während in Deutschland Strecken mit ETCS noch eine Ausnahme sind, wird sowohl in der Schweiz als auch in Österreich bereits seit Jahren ETCS auf Strecken betrieben. Dort sind die Erfahrungen mit ETCS gemischt. Im Nachgang zur SWR-Berichterstattung vom Freitag erklärte der Präsident des Verbandes Schweizer Lokomotivführer und Anwärter Hubert Giger: "Kapazitäten macht man durch Präzision, Stabilität und Qualität und nicht durch ETCS, welches erwiesenermaßen die Kapazität verringert." Tatsächlich hat man sich in der Schweiz, anders als in Deutschland, gegen den Einsatz von ETCS in Bahnknoten entschieden.
Der ETCS-Experte Hans Leister erklärt wiederum: "In der Schweiz gibt es flächendeckend relativ moderne Stellwerke, meist mit Lichtsignalen signalisiert." Strecken, auf denen ausschließlich ETCS ohne Signale verbaut sind, seien selten. "Die DB hat ja vor allem ein Stellwerkproblem, das wiederum nicht sinnvoll gelöst werden kann durch flächendeckende Nachrüstung mit herkömmlichen Lichtsignalen, sondern besser mit ETCS ohne Signale." Durch die sinnvolle Kombination von digitalen Stellwerken und ETCS wären erst die Kapazitätssteigerungen möglich.