Die Bahn hat Probleme - das ist bekannt. Und das gibt sie inzwischen auch selbst offen zu. Ein Hauptproblem im Bahnnetz ist dabei: Immer mehr Züge fahren auf einer Infrastruktur, die dafür nicht ausgelegt ist. Und ausgerechnet im S-Bahn-Netz in Stuttgart scheinen alle Probleme der Bahn geballt aufzutreten.
S-Bahn mutet Personal und Fahrgästen derzeit viel zu
Von maroder Infrastruktur über fehlerhafte Fahrzeuge bis hin zu Modernisierungen und Baustellenstau: Das führte soweit, dass vergangene Woche einem Lokführer der Kragen geplatzt ist und er seinem Ärger Luft gemacht hat. "Es gibt massive Probleme bei der S-Bahn Stuttgart", sagt dazu ganz knapp der baden-württembergische Vorsitzende vom Verkehrsclub Deutschland (VCD) Matthias Lieb dem SWR.
Verkehrsausschuss der Regionalversammlung Scharfe Kritik am S-Bahn-Chaos in der Region Stuttgart
Krankheitsfälle, Baustellen, Störungen und rechtliche Probleme: Ständig ist der S-Bahn-Verkehr in der Region Stuttgart eingeschränkt. Der Verkehrsausschuss fordert schnelle Besserung.
Auch die Bahn gesteht angesichts der Häufung an Problemen Defizite ein. "Wir wissen, dass wir unseren Fahrgästen zur Zeit einiges zumuten", sagt der Geschäftsführer der S-Bahn Stuttgart, Dirk Rothenstein. "Und dafür möchte ich mich auch im Namen aller Mitarbeitenden entschuldigen." Aktuell ist das Fahrplanangebot der S-Bahn stark ausgedünnt.
Fehlende Investitionen rächen sich nun
"Oberleitungsstörungen, Weichenstörungen, Signalstörungen - das sind die üblichen Vorfälle", sagt Lieb vom VCD. Grund ist seiner Meinung nach die marode Infrastruktur der Bahn. Zu lange sei landes- und deutschlandweit zu wenig investiert worden. Das mache sich auch bei der S-Bahn Stuttgart bemerkbar: Der Druck sei zu groß gewesen, gewinnbringend und wirtschaftlich zu agieren. Auch aus Bahnkreisen heißt es gegenüber dem SWR, man habe daher schlicht zu wenig in die Instandhaltung investiert. Die Bahnanlagen würden auf Anschlag gefahren werden.
Ein Beispiel dafür: Im vergangenen Sommer flog ein Vogel in eine Oberleitung auf dem Bahnhofsvorfeld. Der daraus entstandene Kurzschluss legte den Bahnverkehr nachhaltig lahm: Eine Woche lang kam es zu Einschränkungen im Bahnverkehr und bei der S-Bahn rund um Stuttgart. Experten äußerten damals die Vermutung, dass eine mangelhafte Wartung der Bahnanlagen zu den gravierenden Folgen des Kurzschlusses geführt hatten.
Dichterer Verkehr bei mangelnden Investitionen in die Schiene
VCD-Landeschef Lieb sieht noch ein anderes Problem im S-Bahn-Netz Stuttgart. "Natürlich hat man in den letzten Jahren immer mehr Weichen und Überholgleise ausgebaut. Gleichzeitig hat man aber den Verkehr verdichtet." Auf einigen Linien fahren inzwischen doppelt so oft S-Bahn-Züge wie früher. Das Angebot sei deutlich verbessert worden. Wenn aber der Fahrplan ausgeweitet werde, müsse auch in die Infrastruktur investiert werden, so Lieb.
Dem stimmt auch der Geschäftsführer der S-Bahn Stuttgart, Dirk Rothenstein, zu: "Klar ist: Die Infrastruktur ist nicht mitgewachsen. Wir haben sie maximal ausgereizt, und das führt dazu, dass wir jetzt Störungen, die morgens auftreten, nachmittags immer noch merken im Betrieb der S-Bahn." Zwar sei in Stuttgart das Personal aufgestockt worden, aber Corona- und Krankheitswellen würden immer wieder zu Einschränkungen im Bahnverkehr führen, so Rothenstein.
Probleme mit S-Bahn-Zügen
Aus Eisenbahnerkreisen wird dem SWR noch ein anderes Problem geschildert: Durch das verbesserte Fahrplanangebot müssten die vorhandenen Züge auch öfter und mehr fahren als früher. Das bedeute aber auch: Sie müssen häufiger als früher zur Wartung und Instandhaltung ins S-Bahn-Werk in Plochingen (Kreis Esslingen). Dort gebe es aber ebenfalls enormen Personalmangel und Lieferschwierigkeiten bei Ersatzteilen. Auch das sorgt für Verzögerungen.
Doch damit nicht genug, auch die Züge an sich sorgen aktuell für Probleme. Allen voran die modernen S-Bahn-Züge der Baureihe ET 430. Diese Fahrzeuge wurden 2013 in Stuttgart eingeführt. "Seit der Inbetriebnahme vom ET 430 im Stuttgarter Netz vor zehn Jahren gibt es immer wieder Probleme", erklärt ein Lokführer, der anonym bleiben möchte, dem SWR. "Am Anfang waren es die Schiebetritte, dann die Rad-Abnutzung, jetzt gibt es bei den neu gelieferten Fahrzeugen massive Probleme."
Dem SWR liegt ein Dokument der Bahn aus dem Jahr 2018 vor, in dem auf 90 Seiten Probleme, Fehlerquellen und Ursachen bei den Fahrzeugen der Baureihe ET 430 aufgelistet werden.
Großer Unmut auch bei den Lokführern
In der vergangenen Woche wusste sich ein Lokführer nicht mehr zu helfen und hat seinem Frust über die Lautsprecheranlage Luft gemacht:
Bahn prüft mögliche Schritte nach Durchsage Lokführer nennt Züge der S-Bahn Stuttgart "nur noch Schrott"
Ein Lokführer hat die Züge der S-Bahn Stuttgart den "allerletzten Dreck" genannt. Im Netz bekommt er dafür Zustimmung. Von anderer Seite muss er eventuell mit Konsequenzen rechnen.
Dazu kommt: Letztes Jahr wurden 58 neue Fahrzeuge dieser Baureihe geliefert, von denen etwa ein Viertel laut Bahn nicht einsatzbereit ist, weil es Probleme im Betrieb gibt. Mitarbeitende der Herstellerfirma Alstom seien dabei, die Probleme zu beseitigen, so die Bahn. Dazu kommen acht Züge, die im vergangenen Sommer wiederholt Schäden an den Radsätzen bekommen haben und seitdem noch nicht wieder repariert wurden.
Probleme durch Umrüstung auf ETCS
Weitere zwölf Fahrzeuge sind nicht betriebsbereit, weil sie mit dem neuen europäischen Zugsicherungssystem ETCS ausgerüstet werden, die für den Betrieb im neuen Bahnknoten von Stuttgart 21 Voraussetzung ist. Damit nicht genug: Obwohl es sich um die gleichen Züge des gleichen Modells handelt, können die 58 neueren Züge mit den älteren Zügen nicht zusammen gekuppelt werden.
"Es kommen momentan viele Faktoren zusammen", erklärt der S-Bahn-Chef. Spricht man mit Lokführern, ist schon alleine die Arbeit mit dem Zug ein Problem- und Stressfaktor. "Es ist uns bewusst, dass die Fahrzeugsituation mehr als belastend ist", so Rothenstein. "Ich glaube, jeder kann nachvollziehen, dass es keinen Spaß macht, morgens mit einem Arbeitsgerät arbeiten zu müssen, das ständig Fehlermeldungen von sich gibt."
Modernisierung und Baustellen
Den Folgen der maroden Infrastruktur versucht die Bahn inzwischen gegenzusteuern. Insgesamt wird deutschlandweit und auch bei der S-Bahn Stuttgart das Netz modernisiert. Das neue, modernere und digitale Zugsicherungssystem ECTS wird nicht nur in den Stuttgarter S-Bahn-Zügen nachgerüstet. Auch das Schienennetz an sich muss dafür umgebaut werden. Davon verspricht sich die Bahn einen zuverlässigeren und dichteren Betriebsablauf.
Vergangenes Jahr, so Rothenstein, habe es doppelt so viele Baustellen wie 2018 im Netz der S-Bahn Stuttgart gegeben. "Und das wird sicherlich auch so in den nächsten Jahr noch bleiben, bis dieser Schienenknoten modernisiert ist."
S-Bahn Stuttgart als Blaupause für die Bahnprobleme in ganz Deutschland?
Eisenbahnexperten wie auch Lokführer bestätigen dem SWR: Am Beispiel der S-Bahn Stuttgart könne man viele der Probleme aufzeigen, die die Bahn in ganz Baden-Württemberg, ja ganz Deutschland habe. Schon alleine was das Ausreizen der Infrastruktur angehe: "Es geht eine Weile gut, aber nicht dauerhaft", erklärt Matthias Lieb vom VCD.
Deshalb, so Lieb weiter, sei auch die Pünktlichkeit im Fernverkehr so schlecht wie noch nie. Die Deutsche Bahn baue und saniere gleichzeitig. "Das alles zusammen führt dazu, dass der Fahrplan nicht mehr eingehalten werden kann", fasst Lieb die derzeitige Situation zusammen. Auch Probleme mit Fahrzeugen gebe es immer wieder - und auch in anderen Regionen. Immerhin habe man bundesweit inzwischen erkannt, dass man statt eines gewinnorientierten ein gemeinwohlorientiertes Handeln bei der Bahn brauche.
Der Geschäftsführer der S-Bahn Stuttgart versucht es etwas positiver zu formulieren: "Wir sind sicherlich Pilot hier im Schienenknoten Stuttgart, was das Ausreizen und die Nutzung der vorhandenen Infrastruktur anbelangt und damit auch mit dem Thema Digitalisierung der Infrastruktur. Und hier nun sammeln wir sicherlich Erfahrungen, die wir dann auch später an anderer Stelle in der Republik nutzen können."
Wie konnte es soweit kommen und wie geht es weiter?
Wieso wurde nicht schon vor Jahren erkannt, dass das S-Bahn-Netz zu sehr ausgereizt wird? VCD-Landeschef Lieb hat dafür nur eine Erklärung: "Es ist so, dass auf Papier viel funktioniert und Gutachter nachweisen, das würde doch alles klappen. Aber in der Praxis stellt man fest: Es klappt doch nicht." Für ihn ist klar: Es werden noch weitere Probleme auf die S-Bahn zukommen: "Es wird die Umrüstung auf ETCS vorgenommen. Das heißt, alle Fahrzeuge der S-Bahn bekommen eine neue Technik, um die neue Signaltechnik in Stuttgart verstehen zu können." Diese müsse gestestet und erprobt werden. Dafür werden weiterhin Fahrzeuge im regulären Betrieb fehlen. Hinzu kommt: Weitere Baustellen werden kommen und den Betrieb einschränken.
S-Bahn-Geschäftsführer Rothenstein erklärt dagegen, dass die aktuellen Probleme mit Fahrplaneinschränkungen und fehlenden Fahrzeugen bis Ende April diesen Jahres gelöst sein sollen. Dann werde wieder ein reguläres und zuverlässiges Angebot gelten. Dennoch räumt er ein: "Womit wir planen müssen, sind weitere Baustellen." Experten und Eisenbahner erklären gegenüber dem SWR allerdings, es werde noch Jahre dauern, bis die Probleme bei der S-Bahn Stuttgart weniger werden.