Die ukrainische Flagge ist vor dem Rathaus im Klosterhof in Ostfildern gehisst.

"Die Menschen hatten keine Möglichkeit sich zu evakuieren"

So erlebt nach Ostfildern geflohene Ukrainerin den Raketen-Angriff auf Poltawa

Stand
Interview
Julian Hammerstein
Autor/in
Frederike Hagedorn
Bild von Frederike Hagedorn

Iryna Yakubenko ist 2022 aus der Ukraine nach Deutschland geflohen. Viele ihrer Angehörigen sind noch in ihrer Heimatstadt. Am Dienstag erlebten sie dort einen russischen Angriff.

Vergangenen Dienstag hat Russland einen Luftangriff auf die ukrainische Stadt Poltawa verübt. Iryna Yakubenko kommt aus Poltawa und lebt mittlerweile in der deutschen Partnerstadt Ostfildern (Landkreis Esslingen). Sie hält engen Kontakt zu Freunden und Familie vor Ort. Im SWR-Interview erzählt sie, wie es ihr und ihren Angehörigen nach dem Angriff geht.

Luftangriff auf Poltawa: Kaum Zeit, sich zu retten

Als Iryna Yakubenko von dem Angriff am vergangenen Dienstag gehört hat, hat sie sofort versucht, ihre Angehörigen zu kontaktieren. Sie habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Besonders getroffen wurde das Militärische Institut für Kommunikation. Dort arbeitet ein Freund von Iryna Yakubenko. Sie habe sich große Sorgen gemacht.

Ich habe mir so viele Sorgen gemacht, weil ein Freund von mir in dem (Militär-) Institut arbeitet und er hat mir nicht geantwortet.

Im Interview erklärt sie, dass das Militärische Institut für Kommunikation von zwei ballistischen Raketen angegriffen worden sei. Zum Zeitpunkt des Angriffs seien die Studierenden im Gebäude im Unterricht gewesen. Die Menschen hätten kaum Zeit gehabt, sich zu retten, denn zwischen Alarmsignal und dem Einschlag der Raketen seien nur etwa drei Minuten vergangen. Durch die Druckwellen der Raketen seien aus den umliegenden Gebäuden die Fenster und Türen herausgerissen worden. Deswegen gebe es so viele Verletzte, so Iryna Yakubenko.

Das war natürlich am Schlimmsten, dass so viele Leute verletzt wurden. Vom Moment des Alarmsignals bis zum Einschlag der Raketen in das Gebäude vergingen nur drei Minuten ungefähr. Die Menschen hatten einfach keine Möglichkeit sich zu evakuieren.

Laut der Partnerstädte Ostfildern, Filderstadt und Leinfelden-Echterdingen (alle Kreis Esslingen) sind mindestens 55 Menschen ums Leben gekommen und mehr als 325 Menschen verletzt worden. Iryna Yakubenko erzählt, sie habe mit jeder Nachricht ihrer Freunde und Familie etwas mehr aufatmen können. Alle Angehörigen und Freunde seien am Leben - auch der Freund aus dem Militärischen Institut für Kommunikation.

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Trauerbeflaggung in Ostfildern, Filderstadt und Leinfelden-Echterdingen

Freunde und Bekannte von Iryna Yakubenko berichten, dass die Menschen vor Ort sehr verängstigt seien, aber zusammenhielten. Bewohner spendeten Blut für die Verletzten. Chirurgen und Rettungspersonal arbeiteten rund um die Uhr. Viele würden bei den Aufräumarbeiten helfen und unter den Trümmern nach verschütteten Menschen suchen, so Iryna Yakubenko.

In Ostfildern spricht sie mit vielen Ukrainerinnen und Ukrainern über den Angriff. Jeder versuche, Kontakt mit Angehörigen und Freunden in Poltawa zu halten, aber es gebe nicht immer Internet und Strom vor Ort.

Von vielen Frauen sind die Männer dort geblieben. (...) Einerseits haben die Frauen ihre Kinder gerettet, aber andererseits sind dort Männer geblieben und man zerreißt das Herz in zwei Teile.

In den deutschen Partnerstädten von Poltawa gibt es eine Trauerbeflaggung. Ostfildern, Filderstadt und Leinfelden-Echterdingen drücken ihr Mitgefühl und ihre tiefe Betroffenheit aus. Es wurde eine dreitägige Trauerphase angeordnet, so die Stadt Ostfildern.

So verlief die Flucht aus der Ukraine nach Ostfildern

Zusammen mit ihrem Sohn und ihrer Mutter ist Iryna Yakubenko im März 2022 nach Deutschland geflüchtet. Ein Freund habe sie angerufen und ihr gesagt, sie werde in einer Stunde abgeholt. So viel Zeit habe sie gehabt, um ihre Sachen zu packen. Sie habe zwei Koffer mitnehmen dürfen, denn der Rest des Autos sei mit Wasser und Benzin gefüllt gewesen.

Die Ukrainerin Iryna Yakubenko aus Poltawa schaut in die Kamera.
Iryna Yakubenko stammt aus Poltawa.

Fast ohne Pause seien sie bis zu einer Stadt an der rumänischen Grenze durchgefahren. Nach einer Übernachtung auf dem Fußboden einer Aula in einer Schule hätten sie im März bei Kälte sechs Stunden an der Grenze zu Rumänien angestanden, berichtet sie. Von der Grenze aus hätten sie den Bus in die nächste Stadt genommen, wo sie bei einer Familie übernachtet hätten.

Wenn ich jetzt zurückblicke, ich kann es kaum glauben, dass wir es geschafft haben.

Mit Hilfe einer Freundin hätten sie einen Bus nach München erwischt, sagt Iryna Yakubenko. Denn eine Kirchengemeinde sei nach Rumänien gefahren, um dort Geflüchteten zu helfen. Dieser Bus sei bereits abgefahren gewesen, aber extra für Iryna Yakubenko und ihre Familie zurückgekehrt.

Da Iryna Yakubenko an einer Universität in der Ukraine als Deutschdozentin arbeitete, hatte sie über ein Austauschprogramm bereits Kontakt zu einer Lehrerin aus Ostfildern. Diese habe sie aus München abgeholt und nach Ostfildern gebracht, erzählt sie.

Deutsch-Unterricht für ukrainische Kinder in Ostfildern

Iryna Yakubenko arbeitet in Ostfildern als Deutschlehrerin in sogenannten Willkommensklassen. Dort bringt sie Kindern, die aus der Ukraine geflüchtet sind, Deutsch bei. Im weiteren Verlauf unterstützt sie die Kinder auch dabei, einen Platz in einer geeigneten Klasse zu finden. Auch mit den Eltern sei sie in engem Kontakt und helfe ihnen bei jeglichen Fragen weiter, erzählt sie im SWR - zum Beispiel bei Fragen zum Schulsystem, zu Versicherungen oder der medizinischen Versorgung.

Ich kann sagen, also was auch andere Ukrainer aus Ostfildern sagen, dass wir wirklich sehr, sehr dankbar sind, (...) dass wir hier so eine große Unterstützung bekommen haben und dass wir hier in Sicherheit wohnen können. Danke sehr für alles.

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