Ein Projekt des Fotografen Andy Reiner aus Warthausen (Kreis Biberach) dokumentiert das Schicksal von 60 Menschen, die die Glaubensgemeinschaft Zeugen Jehovas verlassen haben. Er will zeigen, wie sie danach unter dem litten, was sie als Ächtung durch verbleibende Mitglieder der Glaubensgemeinschaft empfänden. Der SWR hat sich mit ihm und einer von ihm porträtierten Aussteigerin getroffen. Andy Reimer sagt, er wolle die Gesellschaft ermuntern, im Kontext der Zeugen Jehovas darüber zu sprechen, wie sich Aussteiger fühlten. Er nennt dafür das Stichwort "Ächtung".
Bei Bluttransfusion: Konflikt in Glaubensgemeinschaft?
Daniela Tortiello aus Renningen (Kreis Böblingen) und ihr damals ungeborener Sohn hätten nach einem Verkehrsunfall im Sommer 1999 fast nicht überlebt, so schildert sie es dem SWR. Die Ärzte hätten zu einer Bluttransfusion geraten. Doch aufgrund ihres Glaubens habe sie das abgelehnt, erzählt sie heute. Hintergrund seien Regeln der Glaubensgemeinschaft Zeugen Jehovas, der sie zur Zeit des Unfalls angehörte. Heute sagt sie rückblickend: Wer Bluttransfusionen nicht ablehne, dem drohten in ihrer damaligen Glaubensgemeinschaft Isolation, Manipulation und Ächtung.
Abkehr von den Zeugen Jehovas nach Verkehrsunfall
Fast 200.000 Mitglieder hat die Glaubensgemeinschaft in Deutschland, davon leben etwa 30.000 in Baden-Württemberg. Von Geburt an war Daniela Tortiello eine davon. Den Verkehrsunfall 1999 haben sie und ihr Sohn überlebt, obwohl sie auf die Bluttransfusion verzichtet hatte. Doch sie kam durch dieses Erlebnis ins Zweifeln über die Regeln der Glaubensgemeinschaft. Und trat aus. Was dann folgte, beschreibt sie heute so: Sie habe sich geächtet gefühlt durch andere Mitglieder der Glaubensgemeinschaft. Die Folgen des Austritts empfindet sie bis heute als großes Leid für sich und ihre Familie.
Aussteigerin beschreibt Gefühl der Ächtung: "Es tut sehr weh"
Im Gespräch mit dem SWR beschreibt Daniela Tortiello ihre Gefühle nach dem Austritt. Sie sagt, die verbliebenen Gemeinde- und Familienmitglieder hätten ihr Ächtung entgegen gebracht. Wer die Zeugen Jehovas verlasse, werde von seinem bisherigen nahen Umfeld ausgegrenzt: "Das ist ganz allein auf der Welt zu sein. Die ganze Zeit ein Schamgefühl, ein Schuldgefühl mitnehmen, obwohl man nichts gemacht hat." Außerdem sagt sie: "Es tut sehr weh, weil man die Familie vermisst."
Sie kritisiert, dass sich die Zeugen Jehovas abschotteten. Deshalb lehnt sie die Lebensweise der Glaubengsgemeinschaft heute grundsätzlich ab. "So isoliert zu leben, geht gegen die Menschenrechte. Man hat gar nicht die Möglichkeit, etwas anderes kennen zu lernen, wenn man in so eine Familie rein geboren wird", sagt sie.
Fotograf: Aussteiger-Schicksale gleichen sich
Daniela Tortiello ist von Geburt an Teil der Glaubensgemeinschaft, lebt dort mit Vater, Mutter und fünf Geschwistern, sagt sie. Nach ihrem Austritt sei sie von der Familie isoliert gewesen - bis auch die Mutter die Glaubensgemeinschaft verlassen habe. Mutter und Tochter haben seither wieder Kontakt, aber den Kontakt zu Vater und Geschwistern hat sie nach eigenen Angaben verloren. Schicksale wie diese beobachtet der Fotograf Andy Reimer oft. Alle Aussteiger empfänden massives Leid, berichtet er. Alle litten unter dem, was er "Ächtung" nennt. Deshalb wolle er den Menschen ein Gesicht geben, die so massiv nach dem Ausstieg getroffen seien und "die allein dastehen", sagt er.
Hilfe für andere ausstiegswillige Zeugen Jehovas
Seit einem Jahr engagiert sich Daniela Tortiello in dem Verein JZ Help, um anderen Aussteigern zu helfen, sich nach dem Austritt zurechtzufinden. Die ebenfalls bei dem Verein JZ Help tätige Schweizer Psychologin Regina Spieß hält die Praktiken der Glaubensgemeinschaft für menschenrechtswidrig. Sie sieht das gestützt durch das Urteil eines Schweizer Gerichts aus dem Jahr 2020.
Im Verein JZ Help berät sie Aussteigerinnen und Aussteiger aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Sie kritisiert, dass es keine freie Entscheidung gebe, wenn man die Zeugen Jehovas verlasse. Austritt bedeute ihrer Einschätzung nach zugleich den Verlust der Familie und des sozialen Umfeldes. "Dadurch ist die Religionsfreiheit nicht gegeben", sagt sie dem SWR.
Was sagen die Zeugen Jehovas zu der Aussteigerin und ihrer Familie?
Angesprochen auf Daniela Tortiello und ihre Familie reagieren die Zeugen Jehovas. Man könne sich nicht zu persönlichen Erlebnissen äußern, die mehr als 20 Jahre zurück lägen. Zum Thema Bluttransfusion heißt es von den Zeugen Jehovas schriftlich: Generell träfen Zeugen Jehovas durch die Verweigerung der Zustimmung zu Bluttransfusionen "lediglich eine Auswahl an medizinischen Verfahren, wollen aber dennoch gesund werden und schließen eine Behandlung nicht gänzlich aus".
Zum Thema Ächtung heißt es in dem schriftlichen Statement, das der SWR erhalten hat: "Jeder Zeuge Jehovas, der seine sozialen Kontakte zu einem ehemaligen Mitglied einschränkt oder einstellt, tut dies aufgrund seines religiösen Gewissens." Zum Vorwurf, Menschenrechte zu verletzen, äußert sich die Glaubensgemeinschaft: "Jehovas Zeugen schätzen die Menschenrechte und tragen zu ihnen bei."
Aussteigerin: Ich vermisse meinen Vater und meine Geschwister
Daniela Tortiello beschreibt, was das für sie in der Konsequenz heißt. Der Schmerz sitze immer noch tief. Und an die in der Religiongsgemeinschaft verbliebenen Verwandten gerichtet, sagt sie: "Mein Vater, meine Geschwister, ich vermisse euch so sehr und das jeden Tag." Was ihr bleibt, ist die Hoffnung auf ein Wiedersehen - und darauf, dass auch die inneren Wunden irgendwann heilen.