Mangels Personal verletzen immer mehr Kitas in Baden-Württemberg zeitweise ihre Aufsichtspflicht. Einer breiten Umfrage des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) zufolge gaben 94 Prozent der Kita-Leitungen an, im vergangenen Jahr mit weniger Fachkräften gearbeitet zu haben als vorgeschrieben. "Die Ergebnisse könnten drastischer kaum ausfallen und sie machen eines unmissverständlich klar: Wir befinden uns an einem Kipppunkt", sagte der VBE-Landesvorsitzende Gerhard Brand am Montag bei der Vorstellung der Studienergebnisse. "Man hat jahrzehntelang verschlafen, dass der Bedarf steigen wird."
Betreuungszeiten reduziert, pädagogische Angebote gestrichen
Mehr als ein Drittel aller Kita-Leitungen sagt, dass an zwei von fünf Tagen in der Woche nicht einmal die Mindestbesetzung zur Verfügung stehe, um die Aufsichtspflicht zu gewährleisten. "Wir können die Aufsicht nicht im geforderten Maße wahrnehmen. Da kommt es zu Aufsichtspflichtverletzungen“, sagte Brand. Dieses Problem könne rechtlich relevant werden.
90 Prozent der Kitas müssen daher pädagogische Angebote streichen, mehr als die Hälfte Öffnungszeiten reduzieren. Dies führe zu massiven Einschränkungen im Kita-Betrieb und gefährde die verlässliche Ganztagesbetreuung, kritisiert Brand.
Qualität leidet, Förderungen fallen teilweise weg
Außerdem gehe Qualität verloren: "Kindertagesstätten haben nicht nur die Aufgabe, Kinder zu betreuen. Die Einrichtungen haben auch die Aufgabe, Kinder spezifisch zu fördern, sodass sie sich altersgemäß gut entwickeln können." Solche Förderungen, die für einen guten Schulstart notwendig seien, könnten nicht mehr gewährleistet werden.
Der Verband stellte außerdem fest, dass 60 Prozent der Kita-Leitungen im Land mehr Zeit für ihre Führungsaufgaben benötigen als vertraglich vereinbart. Damit falle das Verhältnis von vertraglicher und tatsächlicher Leitungszeit in Baden-Württemberg viel schlechter aus als im Rest der Republik, wo knapp 39 Prozent der Kita-Leitungen mehr Zeit für ihre pädagogische Führungsrolle aufwenden als per Vertrag festgelegt.
Mehr Mittel und Fachkräfteoffensive gefordert
Damit sich Kita-Leitungen und pädagogische Fachkräfte auf ihre Kernaufgaben konzentrieren können, forderte der Verband unter anderem mehr vertraglich fixierte Leitungszeit und multiprofessionelle Teams. Zudem brauche es mehr Mittel für die Kitas und eine gemeinsame Fachkräfteoffensive, so Brand. Sonst sei die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ebenso in Gefahr wie die frühkindliche Bildung.
Inzwischen habe die Politik allerdings das Ausmaß des Mangels von Erzieherinnen und Erziehern erkannt, erklärte der VBE-Landesvorsitzende: "Im Kultusministerium unternimmt man wirklich Bemühungen, den Beruf attraktiver zu machen und junge Menschen in den Beruf zu bringen." Kurzfristig sieht er allerdings keine zufriedenstellenden Lösungen, um den Fachkräftemangel zu beheben.
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Kita-Leitungen klagen über mangelnde Wertschätzung
In Baden-Württemberg nahmen laut Verband mit über 3.000 Kitaleiterinnen und -leitern im bundesweiten Vergleich die meisten Menschen an der Umfrage teil. Die Befragung streift auch Themen wie die Wertschätzung der Arbeit. Laut der Studie fühlen sich die Kita-Leitungen vor allem durch die Politik nicht wertgeschätzt.
"Bei allen drei Bereichen - Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik - sind es die schlechtesten Werte, die wir je gemessen haben", sagte ein Sprecher des VBE. Außerdem habe die Umfrage gezeigt, dass Maßnahmen zur Personalsicherung und Personalgewinnung zum Teil an dem vorbeigehen, was die Kita-Leitungen für sinnvoll erachten.
Auch der Chef des Städtetags Baden-Württemberg, Ralf Broß, sieht die Probleme bei der Personalsuche in Kitas. Das Ländermonitoring 2022 der Bertelsmann-Stiftung spricht von 16.800 fehlenden Fachkräften in Baden-Württemberg, um in diesem Jahr den gesetzlichen Anspruch aller Kinder auf Betreuung zu erfüllen, deren Eltern Betreuungsbedarf haben.
Städtetag fordert erneut Absenkung von Standards
Für Broß ist klar: Die Betreuung in der heutigen Form lasse sich so nicht aufrechterhalten. "Wir brauchen keine staatliche Regelung von oben, sondern wir müssen den Kommunen mehr Möglichkeiten geben, auf die Situation vor Ort Einfluss zu nehmen. Beispielsweise indem man sehr wohl darüber nachdenkt, den Betreuungsschlüssel zu ändern", schlug er vor. Bisher sei der Betreuungsschlüssel - also wie viele Betreuungskräfte es pro Kindergruppe geben muss - fix.
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"Gleichzeitig müssen wir aber auch darüber nachdenken, ob denn nur die pädagogisch ausgebildeten, studierten Erzieherinnen und Erzieher die Betreuung übernehmen, oder ob wir nicht Betreuung aufteilen können, gedanklich zumindest, in Bildungsarbeit, in Betreuung und in Zeitvertreib", sagte Broß weiter.
GEW-Vorschlag: Kita-Leitungen entlasten
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) fordert, die Kita-Leitungen beispielsweise durch Personen mit administrativem Wissen zu entlasten. "Diese Expertise on top wäre nicht nur entlastend für Kita-Leitungen und ihre Teams, sie wäre lohnend für die Kinder und ihren Familien", sagte Monika Stein, Landesvorsitzende der GEW Baden-Württemberg am Montag in Freiburg.