Jessi hat zwei kleine Kinder und Schulden. So viele Schulden, dass sie sie nicht bezahlen kann. Zuerst war es nur die Miete. Dann kamen andere offene Rechnungen dazu. Zwei Jahre lang wollte sie ihre Situation nicht wahrhaben. "Es kommen Rechnungen, die bleiben liegen und man kümmert sich nicht darum", erinnert sie sich. Selbst wenn sie eine Rechnung bezahlt habe, sei schon eine neue dafür aufgetaucht. Jessi saß in der Schuldenfalle.
Zahl der überschuldeten Familien könnte steigen
Jessi heißt eigentlich anders. Ihren richtigen Namen möchte sie aus Scham nicht sagen. Aber sie möchte über ihre Situation sprechen - im Gegensatz zu vielen anderen Betroffenen. Wie viele überschuldete Familien es in Baden-Württemberg insgesamt gibt, ist nicht bekannt. Laut Überschuldungsstatistik des Statistischen Bundesamts aus dem Jahr 2021 waren mehr als 36 Prozent aller erfassten überschuldeten Personen im Land entweder Alleinerziehende oder Paarfamilien. Aber nicht alle Beratungsstellen geben ihre Fälle weiter und nicht alle Familien wollen in der Statistik auftauchen.
Romy Escher vom Statistischen Landesamt Baden-Württemberg geht davon aus, dass die Zahl überschuldeter Familien in den kommenden Monaten steigen könnte. "Während der Corona-Pandemie haben viele Menschen ihre Arbeit verloren oder wegen Kurzarbeit weniger verdient", sagt Escher, die an einer Analyse zur Überschuldung von Familien mitgearbeitet hat. Betroffene Familien hätten dann oft ihre Rücklagen aufgebraucht. "Jetzt könnte es wegen der hohen Energiepreise und der Inflation bei vielen eng werden."
Jeanette Prosi von der Schuldnerberatung der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Schwäbisch Hall glaubt ebenfalls, dass diese beiden Faktoren "bei vielen Familien der Tropfen sein könnten, der das Fass zum Überlaufen bringt". Die Familien würden schon beim Wocheneinkauf deutlich merken, dass nicht mehr so viel im Geldbeutel sei als noch vor einem Jahr.
"Am schlimmsten sind die Lebensmittelkosten"
Auch bei Jessi hat sich die Situation verschärft. "Am schlimmsten sind eigentlich die Lebensmittelkosten, die ins Unermessliche steigen", sagt sie. Wenn sie im Supermarkt vor dem Regal stehe, frage sie sich oft, wer sich das noch leisten könne. Deshalb spart sie beim Einkaufen - so gut es eben geht. Schwerer fällt ihr, wenn sie ihren Kindern einen Wunsch abschlagen muss. "Schließlich will man das nicht als Mutter", sagt Jessi. "Aber zum Beispiel ein ferngesteuertes Auto für 80 oder 90 Euro ist halt nicht drin."
Neue Schulden will Jessi auf keinen Fall machen. Inzwischen hat sie sich bei der Schuldnerberatung der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Schwäbisch Hall Hilfe gesucht. Die Beratungsstelle richtet sich ausschließlich an Familien. "Es ist eine Last, die von den Schultern fällt, wenn man wirklich Unterstützung bekommt", sagt Jessi. Diese Hilfe bekomme man in jeder Stadt. Man müsse nur den Mut aufbringen, sie sich auch zu nehmen.
800.000 Euro zusätzlich für Pilotprojekte
Für viele überschuldete Familien ist aber genau das eine große Hürde. Baden-Württembergs Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) will sie senken. Deshalb hat sein Ministerium neun Pilotprojekte mit insgesamt 400.000 Euro unterstützt - darunter auch die Schuldnerberatung der AWO in Schwäbisch Hall. Nun soll es noch mehr Geld geben. "Der Bedarf ist so groß, dass wir noch mal 800.000 Euro zur Verfügung stellen, um ihm gerecht zu werden", kündigt Lucha dem SWR an. Bisher liefen die Pilotprojekte gut.
Aber was unterscheidet die Pilotprojekte von anderen Angeboten? Die Beraterinnen der AWO in Schwäbisch Hall arbeiten zum Beispiel mit Schulen, Jobcentern oder Jugendämtern zusammen. Fällt dort eine überschuldete Familie auf, wird sie auf das Angebot der AWO hingewiesen.
"Schuhkartons voll unbezahlter Rechnungen"
Außerdem machen die AWO-Beraterinnen im Gegensatz zu anderen Schuldnerberatungsstellen auch Hausbesuche. "Das heißt, wir können auch Familien besuchen, die nicht mobil sind und deshalb nicht nach Schwäbisch Hall oder Crailsheim ins Landratsamt kommen könnten", sagt Prosi. Zudem sei es für überschuldete Familien oftmals leichter, im vertrauten Umfeld über ihre Situation zu sprechen und zuzugeben, wie hoch die Schulden wirklich seien. "Da werden dann ganze Schubladen oder Schuhkartons voll von unbezahlten Rechnungen auf dem Küchentisch ausgeleert", erzählt Prosi.
Privatinsolvenz als Lösung
Schon drei Mal hat Prosi Jessi zu Hause besucht. Gemeinsam haben sie alle offenen Rechnungen durchgeschaut und aufgelistet, wem Jessi noch wie viel Geld schuldet. Klar ist, sie kann nicht alles Geld zurückzahlen. Deshalb strebt Jessi jetzt eine Privatinsolvenz an. "Sodass ich dann in drei Jahren wirklich komplett Schulden-befreit bin", sagt sie. Denn was sie in den drei Jahren nicht an Schulden begleichen kann, wird ihr anschließend erlassen. Damit hätte sie ihr großes Ziel endlich erreicht: Raus aus der Schuldenfalle.