"Du hast schon von meinem Zuhause gehört - dort steht ein Atomkraftwerk", sagt Dima. Er ist er aus Saporischschja, der sechstgrößten Stadt, weit im Süden der Ukraine. Dima ist 19 Jahre alt, er kennt die Nachrichten, auch wenn er sie kaum noch konsumiert. Durch den russischen Angriffskrieg sind Städte wie seine Heimatstadt plötzlich in den Fokus geraten. Er kam mit dem zweiten Bus, einige Monate später als die ersten Kinder und Jugendlichen nach Weinheim (Rhein-Neckar-Kreis). Seit einem Jahr lebt er in einem Zimmer der Jugendherberge im ersten Stock. "Es ist ein bisschen unordentlich gerade", lacht er.
Weinheimer Jugendherberge als vorübergehende Unterkunft
Dima ist einer von 34 Menschen, die in der ehemaligen Jugendherberge leben. Jungen, Mädchen, einige mit ihren Eltern, andere alleine. Die Jüngste kam mit vier, sie ist mittlerweile sechs Jahre alt. Sie alle leben in einem etwas in die Jahre gekommenen Haus. Gebaut aus braunen Klinkersteinen, eigentlich sollte hier eine modernere Unterkunft entstehen.
Doch das steht seit dem Angriff auf die Ukraine hinten an, die Pläne liegen erst einmal auf Eis. An erster Stelle steht der Alltag. Seine Gedanken, sagt Dima, kreisen nicht jeden Tag um die Heimat oder den Krieg. Er hat seinen Blick auf das Leben in Deutschland, auf das Hier und Jetzt gerichtet. Vor einem Jahr sprach er kein Wort Deutsch - jetzt kann er sich langsam, aber fließend verständigen. Und die Grammatik sitzt.
Der Krieg schwingt mit - aber er ist nicht immer präsent
So wie Dima geht es vielen im Haus. Ein ruhiger Ort. Es gibt Wimpel und kleine Fahnen in Blau und Gelb. Sie hängen an den kargen Wänden, an der Infotafel oder an Zimmertüren. Im Aufenthaltsraum leuchten die Smartphones: Hier sitzen immer ein paar Jugendliche auf Sofas, scrollen auf ihren Displays und unterhalten sich. Ganz normale Jugendliche.
Alltag und Normalität organisieren
In einem der Gemeinschaftsräume sitz Xenia, eine von zwei Betreuerinnen. Therapeutinnen, die deutsch und ukrainisch sprechen. Sie helfen den Kindern und Jugendlichen bei der Organisation der Schule, den Eltern bei Behördengängen. "Die Kinder führen ein ganz normales Leben", sagt Xenia. Schwieriger sei es für einige Eltern, wenn Arztbesuche ohne Dolmetscher zum unüberwindbaren Hindernis werden.
Auch Xenia ist aus der Ukraine geflüchtet. Sie stammt aus Odessa, darüber zu sprechen treibt ihr die Tränen in die Augen. Nachts kreisen ihre Gedanken manchmal um Bunker und das Sirenengeheul der verlassenen Straßen. Für sie ist es schwer nicht zu wissen, wann sie wieder zurück in ihre Heimat kann. "Ein, zwei, drei oder noch vier Jahre", sagt sie. Wie lange der Krieg dauern wird, weiß niemand.
Das macht die Situation an diesem Zwischenort in der ehemaligen Jugendherberge nicht einfacher: ein provisorisches Zuhause. Und dennoch sagt Xenia, sie würde es wieder genau so machen - fliehen. Sie selbst kam über Berlin in den Kreis Bergstraße. Und schließlich an ihren Arbeitsplatz in Weinheim, organisiert über das Pilgerhaus. Eine Einrichtung der Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe in der Stadt. Für sie arbeitet Vanessa Schmidt.
Ein Haus voller Menschen, die Krieg und Flucht erlebt haben und sich neu zurechtfinden mussten. Während immer wieder schreckliche Meldungen aus der Ukraine über Smartphones und Bildschirme flimmern. Wie ist es möglich, in so einer Situation positiv zu blieben? Am Wichtigsten sei, im gegenseitigen Umgang Ruhe zu bewahren, sagt Vanessa Schmidt. Man dürfe sich nicht von jeder Nachricht aufschrecken lassen. Was auch für den Alltag der Menschen gilt, sagt sie. Nicht jede Behörden-Entscheidung sei ein Grund aufzugeben. Jeder Tag kann herausfordernd sein, aber auch neue Hoffnung geben, das ist zu spüren.
Der Rhythmus des Schulalltags
Für den 19-Jährigen Dima heißt das: 6:30 Uhr aufstehen. Frühstücken, bis zum frühen Nachmittag in die Schule gehen. Vergangenes Jahr fand der Unterricht noch in den Räumen der Unterkunft statt. Mittlerweile sind alle Kinder und Jugendlichen in Vorbereitungsklassen. Das klingt banal, gibt vielen aber einen Rahmen und einen Rhythmus, der hilft ein neues Leben zu strukturieren. Dimas Traum: Eine Ausbildung als Anlagentechniker.
Doppelbelastung Jugendhilfe
Dennoch ist und bleibt es schwierig: Die Menschen, die in Deutschland Sicherheit suchen, werden nicht weniger. Das heißt, auch junge Menschen, die alleine nach Deutschland kommen, werden wieder mehr. Der Fachbegriff ist UMA - unbegleitete minderjährige Ausländer. Zehn junge Männer sind aktuell im Haus untergebracht. Sie haben nur wenige Berührungspunkte mit den ukrainischen Kindern und Jugendlichen. Alleine die Sprachbarriere macht es schwer. Dennoch: Noch lasse sich dieses Jugendangebot organisieren, sagt Schmidt. Auch weil wieder mehr jungen Menschen ein soziales Jahr einschieben.
Die ehemalige Jugendherberge ist ein Mikrokosmos internationaler Konfliktherde. Junge Menschen, die hier wegen Krisen und Kriegen einen neuen Weg finden müssen, leben miteinander unter einem Dach. Menschen wie Dima, junge Männer aus dem Nahen Osten oder Nordafrika. Oder Xenia. Sie sagt, wie zuhause fühle sie sich nicht. Aber sicher. Während Dima schon eher angekommen zu sein scheint. Über den Krieg spricht er nur selten mit einem Freund, der nach wie vor in der Ukraine lebt. Ein Kontakt in seine alte Heimat. In der neuen Heimat hat Dima ein ganz anderes Ziel: Noch viel mehr neue Freunde aus Deutschland finden, sagt er mit wachem Blick. Und lächelt breit.