SWR-Recherche nach OP-Zwischenfällen

Frau stirbt nach Narkose bei Zahnarzt in Mannheim - Narkosearzt nach weiterem Todesfall verurteilt

Stand
Autor/in
Holger Schmidt
Onlinefassung
Patrick Figaj
SWR Journalist Patrick Figaj
Christian Scharff
Christian Scharff

Ein Zahnarztbesuch hat eine Frau 2019 in Mannheim das Leben gekostet. Sie starb wegen Fehlern des Narkosearztes. Nach einem weiteren Todesfall wurde er zu Gefängnishaft verurteilt.

Lisa P. (Name geändert) hatte Parodontitis. Eine Volkskrankheit. Millionen Menschen in Deutschland leiden an mehr oder weniger schlimmen Formen dieser Entzündung im Mund. Parodontitis betrifft umgangssprachlich das Zahnfleisch, Raucher und ältere Menschen sind besonders betroffen, auch Zahnstein begünstigt die Krankheit. 

Bei Lisa P. war die Parodontitis schon sehr weit fortgeschritten, auch wenn sie erst Anfang 40 war. Ihr Zahnarzt, Mitarbeiter einer Zahnarztpraxis in Mannheim, die zu einem bundesweit tätigen Netzwerk gehört, plante einen radikalen Schritt: Praktisch alle Zähne sollten gezogen und durch Implantate ersetzt werden. Ein Eingriff, der acht Stunden dauern und in der Zahnarztpraxis unter "Intubationsnarkose", also Vollnarkose, erfolgen sollte. Doch Lisa P. wachte nie mehr auf. Sie starb rund zwei Wochen nach Beginn der Operation. Schuld daran war nicht der Zahnarzt, sondern der Narkosearzt. Dr. W. aus Südhessen. Er trug die Verantwortung für die Narkose. 

Prozess gegen Narkosearzt am Landgericht Frankfurt

Genau gegen diesen Narkosearzt ist am Freitag das Urteil in einem anderen Todesfall vor dem Landgericht Frankfurt gesprochen worden. Mehr als drei Jahre nach dem Tod eines vierjährigen Mädchens in einer Zahnarztpraxis in Kronberg (Hochtaunus) wurde er zu zehneinhalb Jahren Haft verurteilt, wegen Totschlags und dreifachen versuchten Totschlags sowie Körperverletzung mit Todesfolge und dreifacher Körperverletzung. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Narkosemittel verunreinigt

Die Staatsanwaltschaft hatte in dem Prozess gegen den 67-Jährigen am Frankfurter Landgericht eine lebenslange Haft wegen Mordes durch Unterlassen gefordert. Auch hielt sie es für erwiesen, dass sich der Mediziner des versuchten Mordes an drei weiteren minderjährigen Patienten schuldig machte. Die Kinder hatten bei der Narkose ebenso wie das vierjährige Mädchen eine Sepsis erlitten - zwei von ihnen überlebten nur knapp.

Laut Anklagebehörde beging der Anästhesist bei seinem Einsatz im September 2021 in der Kronberger Zahnarztpraxis unter anderem eklatante Hygienefehler, als er seinen Patienten ein mit Bakterien verunreinigtes Narkosemittel spritzte. Unter anderem habe er Narkosen ohne Assistenzkraft durchgeführt und Einwegspritzen mehrfach verwendet. Um seine Fehler zu verdecken, habe er die Kinder trotz ihres kritischen Zustands und der Nachfragen der besorgten Eltern nicht in eine Klinik einweisen lassen.

Der Rechtsanwalt des Arztes hatte in seinem Plädoyer gesagt, es gebe keine Hinweise auf eine Tötungs- oder Verdeckungsabsicht. Sein in Bensheim (Kreis Bergstraße) lebender Mandant ist mittlerweile im Ruhestand. Im Laufe des Prozesses hatte der 67-Jährige zugegeben, ihm seien "unbewusst Fehler bei der Behandlung unterlaufen". Er gab allerdings an, früher um einen Rettungswagen gebeten zu haben.

Gemeinsames Muster in verschiedenen Fällen

SWR-Recherchen legen nahe: Die Fälle und die mutmaßlichen Fehler von Dr. W. haben ein gemeinsames Muster. Und Dr. W. konnte die 2021 verstorbene Emma und die weiteren, schwer erkrankten, Patienten nur deshalb noch behandeln, weil die Staatsanwaltschaft Mannheim den Tod von Lisa P. offenbar eher als ein bedauerliches Versehen einordnete, keine Gefahr für weitere Patienten sah - und nicht mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln eingriff. War die Staatsanwaltschaft zu nachsichtig mit dem langjährig praktizierenden und vermeintlich erfahrenen Arzt? Hat sie möglicherweise einen Mord übersehen? 

Sie werden beschuldigt, durch Fahrlässigkeit den Tod eines anderen Menschen verursacht zu haben

Das steht im Strafbefehl des Amtsgerichts Mannheim gegen Dr. W. (Az. Cs 200 Js 32328/19).

Ein Strafbefehl ist ein verkürztes Strafverfahren, in dem die Staatsanwaltschaft keine öffentliche Verhandlung für notwendig hält. Bei Unfällen im Straßenverkehr passiert das sehr häufig - auch wenn es Tote gegeben hat. Doch wenn der Tod eines Menschen fahrlässig verursacht wurde und die Sachlage sehr eindeutig ist, beispielsweise bei einem Augenblicksversagen im Straßenverkehr, kann durch den Strafbefehl der Justiz und dem Beschuldigten ein aufwändiges Verfahren erspart werden.

Die Staatsanwaltschaft beantragt dann eine Strafe in Form von Tagessätzen und legt je nach Einkommen des Täters die Höhe des Tagessatzes fest. So errechnet sich die Geldstrafe. Stimmt der Beschuldigte zu und bezahlt die Strafe, ist die Sache erledigt.

Narkosespritze wird vor Zahn-OP vorbereitet
Eine Narkosespritze wird vorbereitet.

Berufsverbot erst nach langem Verfahren

In bestimmten Fällen kann im Strafbefehl auch eine Nebenfolge ausgesprochen werden. Der Einzug der Fahrerlaubnis beispielsweise oder das Verbot, Kampfhunde zu halten. Einem Arzt die Ausübung des Berufs zu verbieten, ermöglicht das Strafbefehlsverfahren aber nicht.  

Trotzdem kann es auch nach einem Strafbefehl dazu kommen - durch ein Verwaltungsverfahren. Doch das dauert länger, vor allem, wenn der Arzt anwaltlich gut beraten ist und Widerspruch einlegt. Im Fall von Dr. W. führte der Strafbefehl wegen des Todes von Lisa P. nach langem Tauziehen zu einem Berufsverbot durch die hessische Aufsichtsbehörde. Denn dort sah man seinen Fehler als schwerwiegend an. Die kleine Emma durfte er allerdings noch behandeln.  

Auch die Umstände des Todes von Lisa P. sehen bei genauerem Hinsehen weit gravierender aus, als es in der zweiseitigen Zusammenfassung der Ereignisse im Strafbefehl steht. Doch diese Umstände sind nie öffentlich vor Gericht diskutiert worden. Und dass Dr. W. stundenlang darauf verzichtete, Lisa P. ins Krankenhaus bringen zu lassen ist - soweit erkennbar - von der Staatsanwaltschaft nicht unter dem Blickwinkel eines vorsätzlichen, also absichtlichen Tötungsdelikts betrachtet worden. Versuche des SWR, mit der Staatsanwaltschaft über ihre Ermittlungen zu sprechen, scheitern fast ausnahmslos. Dabei wirft schon der Ablauf der Ereignisse Fragen auf.  

Gefährliche Narkose für adipöse Patientin

Bereits zu Beginn der Operation will Dr. W. das Risiko für seine Patientin erkannt haben. Für ihre Größe war sie weit überdurchschnittlich schwer, hatte eine "Adipositas Grad III", wie es Ärzte nennen. Schon deshalb war sie eine Hochrisikopatientin für eine acht Stunden lange Vollnarkose. Nach ihrem Tod schrieb ein Gutachter der Uniklinik Heidelberg den Ermittlern, dass eine mehr als dreistündige OP im ambulanten Bereich in Deutschland nicht empfohlen und eine mehr als vierstündige OP nach seinem Kenntnisstand in den USA in manchen Bundesstaaten sogar verboten wäre.  

Drei Stunden hatte der Zahnarzt bereits operiert, als die Probleme begannen. Der Zustand der Patientin verschlechterte sich rapide, sie erlitt einen Herzstillstand und musste auf dem Zahnarztstuhl reanimiert werden. Nach vermutlich neun Minuten gelang um 11:42 Uhr die Wiederbelebung. Notarzt und Rettungsdienst wurden allerdings nicht gerufen, auf eine sofortige Verlegung ins Krankenhaus wurde verzichtet. Stattdessen setzte der Zahnarzt ab 12:15 Uhr seine Operation fort, um schnellstmöglich alle offenen Wunden zu verschließen. Um 13:28 Uhr war seine OP beendet. Doch es dauerte nochmals rund zweieinhalb weitere Stunden, bis schließlich der Rettungsdienst gerufen wurde.  

Schäden nach Reanimation?

Ärzte, die mit dem Fall zu tun hatten, sagen dem SWR: Möglicherweise war Lisa P. bereits zum Zeitpunkt der zunächst gelungenen Reanimation bleibend geschädigt. Aber das vollständige Instrumentarium moderner Intensivmedizin hätte ihr noch Chancen geboten. Darauf aber vier Stunden lang zu verzichten, sei keinesfalls nachvollziehbar und ein schwerer Fehler. Hoffte Dr. W., mögliche Fehler durch Zeitablauf verdecken zu können? 

Wie Ärzte ihre Patienten bestmöglich behandeln, kann von vielen Faktoren abhängen. Oft gibt es mehr als eine Möglichkeit und kein klares Richtig oder Falsch. "Leitlinien" der ärztlichen Fachgesellschaften sollen Anhaltspunkte geben, strenge Gesetze sind sie aber nicht. Im Fall Lisa P. hätte die Leitlinie zur Reanimation mehrere Untersuchungen für zwingend nötig gehalten, die in der Arztpraxis nicht möglich waren. Entsprechend wäre die sofortige Verlegung ins Krankenhaus und notärztliche Hilfe "alternativlos" gewesen, sagt ein Mediziner, der mit dem Vorgang befasst war. Dr. W. sah das wohl fast bis zuletzt anders.

3.000 Euro in bar zurückgegeben

Den Ermittlern übergab er ein Gedächtnisprotokoll, in dem er aus der Erinnerung seine Behandlung schildert und nicht mit kritischen Kommentaren über den eintreffenden Notarztkollegen und die "hektische" Stationsärztin an der Universitätsmedizin spart. Das Protokoll liegt dem SWR vor. Selbstbewusst notiert Dr. W., dass er dem Ehemann der Patientin noch am Abend im Wartebereich des Krankenhauses die 3.000 Euro in bar zurückgegeben habe, die er morgens für die Narkose bekam und dass ihn die Ärzte auf der Intensivstation unter keinen Umständen zu seiner Patientin lassen wollen. Im Kontext entsteht der Eindruck: Dr. W. verstand offenbar nicht, warum. 

Vollnarkose gegen Barzahlung: Was auf den ersten Blick seltsam wirkt, ist kein ungewöhnliches und grundsätzlich erlaubtes Geschäftsmodell von Narkoseärzten und Zahnarztpraxen. Doch es könnte gerade im Fall Lisa P. verhängnisvoll gewesen sein. Bis zum Morgen der OP hatte Dr. W. seine Patientin offenbar noch nie persönlich gesehen. Welche Rolle spielten das erwartete Honorar und mögliche gemeinsame weitere Operationen in der Zahnarztpraxis?

Ein Tagessatz von nur 150 Euro?

Die Staatsanwaltschaft Mannheim hat dem Geld offenkundig keine größere Bedeutung beigemessen. Das Einkommen von Dr. W. hat sie für den Strafbefehl nicht ermittelt, sondern geschätzt. Zur Höhe gibt es offiziell keine Auskunft. Nach SWR-Recherchen wurde jedoch ein Tagessatz von 150 Euro festgelegt. Und das wirft weitere Fragen auf.  

Für einen selbständigen Arzt sind 150 Euro Tagessatz erstaunlich wenig Geld, nicht nur, wenn man das konkrete Honorar von 3.000 Euro für die achtstündige Behandlung am Tattag zugrunde legt. Im Verfahren am Landgericht Frankfurt geht es unter anderem um die Frage, ob Dr. W. unzulässig Medikamentenflaschen und anderes Material mehrfach verwendet haben soll. Auch hier taucht die Frage auf: Wenn es so war, dann aus finanziellen Gründen?

Kollegen des Arztes fassungslos

Für diese Frage hat sich die Staatsanwaltschaft Mannheim damals offenbar ebenso wenig interessiert wie für die Einschätzung der Ärzte aus der Universitätsmedizin Mannheim, die tagelang versuchten, Frau P. zu retten. Unter der Zusicherung der Anonymität konnte der SWR mit Ärzten sprechen, die den Fall aus nächster Nähe kennen. Sie sind bis heute fassungslos über ihren Kollegen und wundern sich darüber, dass von den Ermittlern niemand mit ihnen gesprochen hat. Die Staatsanwaltschaft Mannheim sagt dem SWR, ein externer Gutachter der Universitätsmedizin Heidelberg, der das Geschehen aus den Akten nachvollzogen habe, sei ausreichend gewesen.  

Die Fragen nach Geld, Risikoabwägung und ärztlichem Selbstverständnis wären in einer Hauptverhandlung vor Gericht öffentlich zur Sprache gekommen.

Statt der Staatsanwaltschaft hatte sich Wochen nach dem Strafbefehl die hessische Aufsichtsbehörde für Ärztinnen und Ärzte um ein Berufsverbot für Dr. W. gekümmert. Doch das Verfahren dauerte, denn Dr. W. legte zunächst noch Widerspruch ein und der hat im Verwaltungsverfahren - anders als beim gerichtlichen Berufsverbot - grundsätzlich eine aufschiebende Wirkung. Deshalb konnte Dr. W. noch monatelang weiter tätig sein. Und unter anderem das vierjährige Mädchen behandeln, für dessen Tod er nun am Landgericht Frankfurt wegen Totschlags verurteilt wurde. Hält die Staatsanwaltschaft Mannheim vor diesem Hintergrund ihren damaligen Antrag auf Strafbefehl noch für richtig? Die Sprecherin der Behörde sah das vor dem aktuell ergangenen Frankfurter Urteil noch nüchtern: Das sei eine Wertungsfrage, auf deren Beantwortung der SWR keinen Anspruch habe.

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