Mutmaßliche Übergriffe während Hilfsprojekt

Missbrauch in Kenia? Heilbronner Beschuldigter bekam Spenden der "Sternsinger"

Stand

Ein 62-Jähriger sitzt in Kenia in U-Haft. Nach Recherchen von SWR und "DER SPIEGEL" soll er sich dort im Rahmen eines Hilfsprojekts an mehreren Jungen vergangen haben.

Die Vorwürfe gegen einen 62-jährigen Mann aus Heilbronn wiegen schwer: Er soll in Kenia von 2006 bis 2023 mindestens zehn Minderjährige teilweise über Jahre missbraucht oder sexuell ausgebeutet haben. Laut Anklageschrift, die dem SWR und dem "SPIEGEL" vorliegt, war das jüngste der männlichen Opfer zwölf Jahre alt. Stattgefunden haben soll der mutmaßliche Missbrauch unter anderem auf einer Farm, die der aus Heilbronn stammende Mann im Rahmen eines Hilfsprojekts aufgebaut hatte - 200 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Nairobi. Sein Anwalt ließ einen schriftlichen Fragenkatalog zu den Vorwürfen unbeantwortet. Der Beschuldigte selbst, der seit Februar in Kenia in Untersuchungshaft sitzt, hat während eines Gerichtstermins einzelne Vorwürfe abgestritten.

Mutter: "Leben der Kinder für immer ruiniert"

Eine kenianische Frau berichtet anonym im Interview, ihr Sohn und später auch ihr Enkel seien erst Anfang dieses Jahres auf den Projekthof des Beschuldigten gezogen. Der 62-Jährige habe den Kindern versprochen, sie bei ihrer Bildung zu fördern. Sie hätten die Hoffnung gehabt, zur Uni gehen zu können. Nun seien die beiden Kinder in staatlicher Obhut und befänden sich in einem Zeugen-Schutzprogramm. Laut Anklageschrift wurden sie sexuell ausgebeutet. Die Frau hat nun Angst, dass sich die Kinder selbst etwas antun könnten, sollten sie in ihr Umfeld zurückkehren. "Das Leben dieser Kinder ist für immer ruiniert, denn sie wurden traumatisiert. Es gibt hier kein Leben mehr für sie, keine Schule. Die Kinder werden sich ein ganzes Leben lang selbst infrage stellen", sagt sie.

Der Projekthof des Angeklagten in Kenia. Dort und an anderen Orten soll es zu teils jahrelangem Missbrauch gekommen sein.
Der Projekthof des Angeklagten in Kenia. Dort und an anderen Orten soll es zu teils jahrelangem Missbrauch gekommen sein.

Betroffener berichtet von Missbrauch in den 80ern

In Deutschland sieht nun Thomas F. seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Seit Jahren warnte der 55-Jährige, der in Wirklichkeit anders heißt, vor den Aktivitäten des nun Beschuldigten in Kenia. Denn: Er sei selbst als Ministrant in der katholischen Kirchengemeinde Heilbronn-Sontheim in den 80er Jahren von dem heute 62-Jährigen missbraucht worden. Dieser hatte damals als ehrenamtlicher Oberministrant Ausflüge und Treffen für Jugendliche und Ministranten organisiert. Dabei sei er ihm gegenüber immer wieder übergriffig geworden, berichtet Thomas F. im SWR-Politikmagazin "Zur Sache Baden-Württemberg": "Das fing so mit 12, 13 ungefähr an, bis ich 15 war etwa. Und irgendwann ist das über die rote Linie drüber gegangen. Das war einmal das Anfassen von mir im Genitalbereich. Umgekehrt wollte er auch angefasst werden, befriedigt werden."

Ein Betroffener im Interview.
Jahrelang warnte ein Betroffener vor den Aktivitäten des nun Beschuldigten in Kenia. Er sei selbst als Ministrant in den 1980er Jahren von dem 62-Jährigen missbraucht worden.

Bistum erkannte früheren Missbrauchsfall an

2016 wurde der Fall von Thomas F. sowie ein weiterer vom Bistum Rottenburg-Stuttgart anerkannt. Man bitte "um Vergebung dafür, dass Ihr Vertrauen missbraucht wurde und Sie seelische Verletzungen erlitten haben", heißt es in einem Brief des Bischofs Gebhard Fürst an Thomas F. vom Mai 2016. Der Anwalt des nun in Kenia Beschuldigten hat sich zu diesem Vorwurf nicht geäußert.

Mutmaßlicher Täter baute Entwicklungszentrum auf

Zum Zeitpunkt der Anerkennung des Missbrauchs durch das Bistum war der einstige Oberministrant längst aus Heilbronn weggezogen. Er schloss sich zunächst einem katholischen Orden an, der auch in Afrika aktiv ist und baute schließlich in Kenia ein eigenes Entwicklungsprojekt für Kleinbauern auf. Das Ziel dabei auch: die Ausbildung von jungen Männern im landwirtschaftlichen Bereich. Noch 2016 wurde das Projekt auf der Seite des Dekanats Heilbronn-Neckarsulm, das zur Diözese Rottenburg-Stuttgart gehört, beworben: "[Der nun Beschuldigte] bleibt vor Ort und lebt unmittelbar mit 'seinen' kenianischen Jungs, bzw. deren Familien!"

"Sternsinger" sammelten rund 280.000 Euro

Das Projekt des einstigen Oberministranten fand in der früheren Heimat große Unterstützung. Allein für das Kindermissionswerk "Die Sternsinger" wurden in mehreren Kirchengemeinden rund 280.000 Euro gesammelt, bestätigt ein Sprecher. 2013 gründete sich zudem ein eigener Förderverein namens "Karunga", dessen Vorsitzender damals ein Mitarbeiter des Dekanats Heilbronn-Neckarsulm war.

Alarmiert durch regelmäßige Rundbriefe, die der frühere Oberministrant aus Kenia nach Deutschland schickte, erstattete Thomas F. 2012 zunächst Strafanzeige, allein um die Aufmerksamkeit auf das Geschehen in Kenia zu lenken und vor dem dort jetzt Beschuldigten zu warnen. Strafrechtlich war der mutmaßliche Missbrauch an Thomas F. bereits verjährt. Nachdem sein Fall offiziell von der Kirche anerkannt worden war, verständigte er zudem das Sternsinger-Kindermissionswerk. Dort heißt es, man habe im Dezember 2022 konkrete Hinweise auf mutmaßlichen Missbrauch durch den heute 62-Jährigen in Kenia erhalten und dann über eine Hinweisplattform das Bundeskriminalamt informiert. Womöglich kamen dadurch die Ermittlungen in Kenia erst in Gang. 

Brisantes Gutachten

Allerdings hatte das Sternsinger-Kindermissionswerk bereits 2018 ein umfassendes Gutachten in Auftrag gegeben. Zwei Menschrechtsanwältinnen in Kenia untersuchten das Projekt des aus Heilbronn stammenden Mannes, befragten auch Jugendliche vor Ort. Laut Sternsinger-Kindermissionswerk habe das Gutachten zwar "mögliche Risiken mit Blick auf den Kinderschutz" aufgezeigt, jedoch "keine konkreten Anhaltspunkte für sexuellen Missbrauch". In dem Gutachten, das dem SWR und dem "SPIEGEL" vorliegt, nennen die beiden Anwältinnen allerdings brisante Details hinsichtlich eines "unmittelbaren und ernsthaften" Schadensrisikos für die Minderjährigen. So habe sich der Leiter des Hilfsprojekts in mindestens einem Fall einem jungen Mann angenähert, um mit diesem eine Beziehung einzugehen. Zudem hatten die Anwältinnen den Eindruck, dass die befragten jungen Männer zuvor instruiert worden waren. Auch entscheidende Genehmigungen sowie in Kenia geltende Kinderschutzstandards sollen demnach gefehlt haben.

Zog sich Förderverein zu spät aus Projekt zurück?

Das Sternsinger-Kindermissionswerk hat das Gutachten oder "wesentliche Untersuchungsergebnisse" nach eigenen Angaben spätestens bis 2019 sowohl den kenianischen Behörden, also auch der Diözese Rottenburg-Stuttgart sowie dem Karunga-Förderverein übermittelt. Dennoch beendete dieser Förderverein erst 2021 die Zusammenarbeit mit dem früheren Oberministranten - unter anderem wegen "nicht ausreichend nachvollziehbare[r] Verwendung der Mittel". Auf Nachfrage teilt der Verein schriftlich mit: "Durch unseren Rückzug aus dem Projekt wären [die sexuellen Übergriffe] nicht vermieden worden."

Kritik von Betroffeneninitiative

Für Matthias Katsch, Geschäftsführer und Gründungsmitglied der Betroffeneninitiative "Eckiger Tisch", ist das nicht nachvollziehbar. Zwar könne niemand wissen, was bei einem früheren Rückzug des Karunga-Vereins aus dem Projekt passiert wäre. Aber: "Sie hätten […] eine klare Grenze aufgezeigt. So müssen sie sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie ihm dabei geholfen haben, Gelegenheitsstrukturen aufrechtzuerhalten, in denen er Übergriffe, Verbrechen, für die er jetzt angeklagt ist, begehen konnte." Noch allerdings ist der frühere Oberministrant aus Heilbronn in Kenia nicht verurteilt. 

 Matthias Katsch im Interview.
Für Matthias Katsch, Geschäftsführer und Gründungsmitglied der Betroffeneninitiative "Eckiger Tisch" ist nicht nachvollziehbar, warum das Sternsinger-Kindermissionswerk nicht früher aus dem Hilfsprojekt ausgestiegen ist.

Diözese: Keinen Einfluss auf Förderverein

Kritisch sieht Katsch auch die Rolle des Bistums Rottenburg-Stuttgart. Denn diese teilt auf Nachfrage mit, der Karunga-Verein sei ein von der Kirche "unabhängiger, privater Verein, auf den die Diözese keinen Einfluss hat." Allerdings war deren Vorstandsvorsitzender lange Zeit ein Angestellter eines katholischen Dekanats, das zum Bistum gehört. Dazu sagt Katsch: "Die Verantwortung ist an der Stelle nicht teilbar, und die Bezüge, die kirchlichen Bezüge des früheren Oberministranten sind eindeutig. Und sie sind auch anerkannt worden durch das Bistum, indem sie dem Betroffenen eine Anerkennungszahlung geleistet haben." Nach Angaben des Bistums wurde bis 2018 in Kirchengemeinden für das Projekt des jetzt in Kenia Beschuldigten geworben oder Geld gesammelt.

Thomas F. noch immer gezeichnet

Thomas F. ist wütend, dass es so lange gedauert hat, ehe sich Behörden und kirchliche Stellen das Kenia-Projekt des aus Heilbronn stammenden Mannes genauer ansahen. Jetzt sei er einerseits erleichtert, dass sich die Justiz in Kenia eingeschaltet hat, andererseits fühle er mit den Jugendlichen dort mit. Denn was er in den 80er Jahren erlebt habe, werfe noch immer ein Schatten auf sein Leben: "Das waren keine Kavaliersdelikte, sondern das hatte massive Auswirkungen auf meine Entwicklung und auf meine Psyche. Er hat mir Gewalt angetan."

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