Ein Schiess-Saloon wirbt noch im Jahr 2022 mit Indianern. Fotografiert auf dem 175. Cannstatter Volksfest auf dem Cannstatter Wasen in Stuttgart.

Alte Weltanschauungen versus progressive Gesellschaft?

Von kultureller Aneignung und Alltagsrassismus in BW

Stand
Autor/in
Matthias Roman Schneider
SWR Aktuell, Logo

Eine Tanzgruppe soll nicht in Sombreros bei der BUGA auftreten: Die Diskussion "Was ist noch okay?" ist wieder entfacht. Mechanismus der Medien oder ein notwendiger Diskurs?

Dass eine Tanzgruppe von Seniorinnen aus Mannheim im Internet und der restlichen Medienlandschaft solche Wellen schlägt, hätte sicherlich keine oder keiner der Beteiligten erwartet: In Mannheim findet aktuell die Bundegartenschau (BUGA) statt. Eine Tanzgruppe der dortigen Arbeiterwohlfahrt (AWO) hatte dafür Auftritte eingeplant - wurde dann aber von den Veranstalterinnen und Veranstaltern kurzfristig ausgeladen, weil in ihrer Show volkstümlich angehauchte Tänze auftauchen, die sich vermeintlich an Klischees anderer Kulturen bedienten.

Beispielsweise ein mexikanisches Stück: Die Seniorinnen des AWO-Ballets kleiden sich dabei in Ponchos und Sombreros. Das bot neuen Zunder für die Diskussion über kulturelle Aneignung im Netz.

Aufregung um kulturelle Aneignung berechtigt?

Avra Emin ist Sozialarbeiterin, im Vorstand des Forums der Kulturen Stuttgart und im Landesverband für postmigrantische Vereine in Baden-Württemberg - sie versteht die Aufregung: "Also zum einen ist da der Punkt, dass gewisse Völker keine Kostüme sind. Das sind Lebensrealitäten. Das sind reale Menschen, die so leben."

Emin verweist darauf, dass beispielsweise auch indigene Völker instrumentalisiert werden. "Für etwas anderes, etwas musikalisches - oder wie auch immer präsentiert werden. So wie Tiere im Zoo", erklärte sie im Gespräch mit dem SWR. Das Problem sei, dass Menschen, die wirklich so leben, sich zur Schau gestellt fühlten, auch wenn es nur Kostüme seien.

Laut Avra Emin vom Forum der Kulturen in Stuttgart würde anstatt kultureller Aneignung ein kultureller Austausch dann gut funktionieren, wenn Betroffene aus den jeweiligen Kulturkreisen an Aktionen beteiligt sind.

Kompromiss gefunden, Diskurs noch in voller Fahrt

Mittlerweile wurde im Fall mit der Seniorinnen-Tanzgruppe ein Kompromiss gefunden: Sie darf in angepasstem Rahmen bei der Gartenschau auftreten. Der Diskurs über das eigentliche Problem ist allerdings noch in voller Fahrt und wird fast so regelmäßig angestoßen wie die klischeebeladenen Fahrgeschäfte auf den Volksfesten im Land, deren Bilder und Figuren in den Fokus geraten waren.

Wolfgang Schweiger ist Kommunikationswissenschaftler und Professor an der Universität Hohenheim in Stuttgart. Er sagte dem SWR auf Anfrage: "Das Thema 'kulturelle Aneignung' ist ein kleiner Teil der größeren und zweifellos wichtigen Debatte, wie wir weltweit für Gerechtigkeit und Chancengleichheit von Kulturen und Menschen in verschiedenen Weltregionen sorgen können". Es gehe also um den "Abbau der bestehenden hegemonialen Dominanz der Länder des globalen Nordens", fordert Schweiger.

Überbleibsel der Kolonialzeit?

Mit Hegemonie ist die Vorherrschaft einer Region oder eines Landes über den Rest der globalen Gesellschaft gemeint, so ähnlich erklärt es die Bundeszentrale für politische Bildung. Sind das Überbleibsel der Kolonialzeit? Im frühen 20. Jahrhundert wurden beispielsweise fremde Völker aus fernen Ländern ins damalige Deutsche Reich verschleppt und etwa in Berlin wie Zirkustiere vorgeführt - was auch in dem aktuellen Kinofilm "Der vermessene Mensch" von Lars Kraume zu sehen ist. Hierbei geht es um die deutsche Kolonialgeschichte mit Afrika.

Die Berichterstattung über das Thema der kulturellen Aneignung sorgt vor allem auf Social-Media-Plattformen häufig für Unverständnis. Kommentare von Userinnen und Usern unter diesem Post zum umstrittenen BUGA-Ballett auf dem Instagram-Auftritt von SWR Aktuell bestätigen diesen Eindruck, spiegeln aber wiederum auch ein geteiltes Meinungsbild.

"Zeichen von Respektlosigkeit" versus "Schadet der Völkerverständigung"

User r. schreibt: "Es geht nicht um Klischees. Es ist einfach ein Zeichen von Respektlosigkeit, traditionelle Kleidung anderer Menschen als Verkleidung zu benutzen. Erinnert mich persönlich an die “Menschenzoos”, die es hier in Deutschland noch bis vor wenigen Jahrzehnten gab. Aber wer nicht für Themen wie Eurozentrismus und Rassismus sensibilisiert oder offen ist (weil nicht betroffen), wird hier wahrscheinlich wieder kein Problem sehen…"

User k. kommentiert: "Was ist eigentlich mit den ganzen Chinesen und/oder anderen Ausländern die im Dirndl und in der krachledernen auf Oktoberfest kommen? Spricht da auch einer von kultureller Aneignung? Ich finde dieses ganze Thema schadet der Völkerverständigung und es schafft eher Distanz als Nähe und Akzeptanz."

Die Machtverhältnisse spielen eine Rolle

Emin vom Forum der Kulturen Stuttgart kennt das letzte Argument des Instagram-Users - das käme häufig. Bei der Argumentation werde aber eine Sache vergessen: "Die Machtverhältnisse, wie weiße Menschen zum Beispiel gegenüber BIPoC also 'Black, Indigenous, People of Color' stehen. Das sind Menschen, die von negativem Rassismus betroffen sind."

Dass das Machtverhältnis nicht das gleiche ist, zeige sich zum Beispiel, wenn eine weiße Person sich "Dreadlocks macht und als 'offen und cool' wahrgenommen wird". Im Gegensatz dazu findet aber möglicherweise "eine Schwarze Person, die ja sowieso schon diese Locks hat, deshalb dann auf dem Arbeitsmarkt keine Arbeit", betont Emin.

Diskriminierende und rassistische Sprache als Teil des Problems

"Wir wissen aus Studien, dass bestimmte Ausdrucksweisen einen erheblichen Einfluss auf das Verständnis von Texten haben und die Leserinnen und Leser beeinflussen können", erklärt Schweiger einen weiteren Aspekt der Diskriminierung. "Wir wissen auch, wie sehr diskriminierende Formulierungen Betroffene belasten können." Solche Formulierungen tauchen häufig auch in der Literatur auf, wie die Debatte über die Abitur-Lektüre "Tauben im Gras" kürzlich zeigte. Laut Schweiger ist uns allen bewusst, wie schwierig es ist, problematische Formulierungen als solche zu erkennen und zu vermeiden.

"Deshalb kann und soll es hier nicht um die reine Lehre gehen. Sondern darum, Menschen für diskriminierende Sprache zumindest zu sensibilisieren."

Medien berichten, wie extreme Positionen aneinander geraten

Menschen mit extremen Positionen geraten laut Schweiger häufig aneinander, und die Medien berichten darüber. Dass erkläre man sich in der Wissenschaft so: "Wir geben uns Mühe, sensibel zu sprechen, und wenn wir mal danebenliegen, geht die Welt auch nicht unter." Doch das sei für Medien in der Debatte einfach zu wenig dramatisch. "Es ist gerade für die Medien wichtig, in solchen Debatten als Stimmen der Mäßigung aufzutreten und oft machen das Qualitätsmedien auch", so Schweiger. 

Kulturelle Aneignung auf dem Schirm der Landespolitik

Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) wurde diese Woche während einer Landespressekonferenz in Stuttgart von Journalisten auf das Thema der kulturellen Aneignung angesprochen. "Das Thema treibt mich um." Dem müsse sich auch die Landesregierung mal systematisch widmen. "Ich muss mir da erst eine qualifizierte Auffassung dazu machen - Leute auch anhören - und dann müssen wir uns mal wirklich positionieren in der Frage", so Kretschmann.

Die AWO-Tanzgruppe ist nur eines von vielen Beispielen, die in jüngerer Vergangenheit die kulturelle Aneignung zum Thema gemacht haben. Auch die Diskussion über die neusten Winnetou-Bücher, kommt da in den Sinn. Offensichtlich ist das alles ein Diskurs, den die Gesellschaft führen muss.

Die Fernsehsendung Zur Sache BW befasste sich am 27.4.2023 im Südwestrundfunk mit dem Thema kulturelle Aneignung.

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