Wartelisten und verschobene Operationen

Kinderkliniken in BW am Belastungslimit

Stand
Autor/in
Henning Otte
SWR-Reporter und -Redakteur Henning Otte, SWR Landespolitik
Onlinefassung
Patrick Seibert
Bild von SWR Aktuell-Redakteur Patrick Seibert

Es ist ein Tropfen auf den heißen Stein: In Balingen am Fuße der Schwäbischen Alb gibt es künftig eine kleine Kinderklinik. Doch die Versorgung der Kleinsten in BW bleibt prekär.

Auf den ersten Blick sieht es aus wie eine Trendwende. In Balingen (Zollernalbkreis) wird eine neue, kleine Kinderklinik eröffnet - es ist die erste seit ganz langer Zeit in Baden-Württemberg. Doch in den vergangenen 30 Jahren wurden in Deutschland 40 Prozent der Betten in der Kinderheilkunde abgebaut. Vor allem private Anbieter zogen sich aus diesem Bereich zurück. Ihr Argument: Die Finanzierung sei nicht auskömmlich. Immerhin ist in Baden-Württemberg die Zahl der Krankenhäuser mit Kinderstation seit 2015 stabil geblieben. Es sind 35 Kliniken.

Zwei Lichtblicke in der Krankenhauslandschaft BW

Im Zollernalbkreis wird mit der neuen Abteilung am Klinikum eine Lücke geschlossen. Bisher mussten Eltern in der Gegend mit ihren Kindern zu Krankenhäusern in Ravensburg, Reutlingen oder Tübingen fahren. Und das war teilweise sehr weit und zeitaufwändig.

Die neue Abteilung besteht aus zwei Bereichen: Es gibt zwölf Betten in der allgemeinen Kinderheilkunde und sechs Betten für Neugeborene. Auch für Südbaden gibt es einen Lichtblick: Das Uniklinikum in Freiburg will laut Gesundheitsministerium noch in diesem Jahr eine Kinder- und Jugendklinik eröffnen.

Gesundheitsminister sieht "vereinzelt" Lücken in Versorgung

Seit Jahren ist die medizinische Versorgung der Kleinsten ein Sorgenkind der Politik. Notaufnahmen sind überlastet und auch für dringende Operationen gibt es teilweise lange Wartelisten. Aus dem baden-württembergischen Gesundheitsministerium von Minister Manfred Lucha (Grüne) heißt es dazu: "Vereinzelt treten in der ambulanten hausärztlichen und spezialärztlichen Versorgung von Kindern und Jugendlichen sowie in der stationären Versorgung - insbesondere in der Neonatologie und pädiatrischen Intensivmedizin - Lücken in der Versorgung auf."

Personalmangel macht Kinderkliniken zu schaffen

Bei Christian von Schnakenburg, Chefarzt der Kinderklinik Esslingen, hört sich das etwas anders an. "Der Öffentlichkeit ist noch immer nicht klar, wie sehr die Kindermedizin mit dem Rücken zur Wand steht." Das Hauptproblem sei der Personalmangel. In Baden-Württemberg könnten nur 60 bis 80 Prozent der Betten belegt werden, weil das Personal fehle. "Deswegen müssen die Kinder teilweise zwischen Kliniken hin- und hergefahren werden." Besonders herausfordernd sei die Überlastung der Intensivstationen. Für ihn sei das ein großer Spagat zwischen "unterlassener Hilfeleistung", wenn Patienten abgewiesen würden und "Übernahmeverschulden" - wenn also Patienten aufgenommen, aber nicht richtig versorgt werden könnten. Das sei sehr belastend.  

Schnakenburg sieht momentan wenig Lösungsansätze. Die Politik, auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), habe das Problem auf dem Schirm, es gebe auch mehr Geld. Aber das lindere den Personalmangel nicht. Er wünscht sich "mehr Wertschätzung" für die Kindermedizin. Es gehe auf den Stationen nur noch mit großem persönlichem Einsatz, die Burn-out-Gefahr sei groß. Hier würde er gern etwas ändern: "Pflegekräfte werden generalisiert ausgebildet und müssen für Kindermedizin erst nachgeschult werden."

Rekordzahl an Kindernotfällen am größten Klinikum

Das Klinikum Stuttgart betreibt mit dem Olgahospital die mit Abstand größte Kinderklinik in Deutschland, noch vor der Charité. "In vielen Bereichen gibt es Wartelisten und der Bedarf an Behandlungen übersteigt die Kapazitäten", sagt Jan Steffen Jürgensen, Medizinischer Vorstand des Klinikums Stuttgart. "Die Belastung vieler Bereiche ist grenzwertig." Die Notaufnahme habe 2023 mit etwa 35.000 Fälle eine Rekordzahl an Kindernotfällen versorgt.

Aus Sicht der Krankenhausgesellschaft (BWKG) hat die Versorgung in den immer schwierigen Wintermonaten mit Infekt-Wellen nur mit viel Zusatzaufwand funktioniert. "Es war immer wieder knapp, hat an einigen Ecken geknirscht und die Klinikverantwortlichen mussten nicht selten mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Kliniken Kontakt aufnehmen und schauen, ob vielleicht doch noch jemand ein Bett frei hat", sagt Matthias Einwag, Hauptgeschäftsführer der BWKG.

Unbesetzte Kinderarztpraxen erhöhen Belastung

Die 35 Kinderkliniken in Baden-Württemberg müssen zudem ausgleichen, was von niedergelassenen Medizinern nicht mehr geleistet werden kann. In vielen Regionen sind Sitze von Kinderärzten unbesetzt. Auch hier sprechen die Zahlen auf den ersten Blick eine andere Sprache. Im Jahr 2013 gab es in Baden-Württemberg 881 Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte, zehn Jahre später waren es 1.011. Doch weil viele Mediziner in Teilzeit oder als Angestellte in einer Praxis arbeiten und somit weniger Sprechstunden anbieten, ist der Versorgungsanteil kaum gestiegen.

Zugleich ist der Aufgabenkatalog der Kinderärzte deutlich länger geworden. Die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) nennt die erweiterten Vorsorgeuntersuchungen, Impfungen, aber auch Krankheiten wie die Hyperaktivitätsstörung ADHS oder psychosoziale Probleme. Nur wenige junge Mediziner können sich vorstellen, als Kinderarzt auf dem Land in Vollzeit zu arbeiten. Laut KVBW sagen über 80 Prozent, das komme für sie nicht infrage.

Hilflose Eltern können oft Schwere der Krankheit nicht einschätzen

Den Kinderärzten macht aber auch zu schaffen, dass Eltern nicht selten wegen Kleinigkeiten in die Praxis kommen. "Die Hilflosigkeit von Eltern in der Einschätzung der Schwere der Erkrankungen und damit der Drang einer raschen Abklärung ist nach der Wahrnehmung vieler Kolleginnen und Kollegen in den letzten Jahren größer geworden", sagt etwa Roland Freßle, Landeschef des Verbands der Kinder- und Jugendärzte BW. Hier würden dringend Instrumente zur Steuerung der Patientinnen und Patienten benötigt, aber es komme auch auf die Eltern an. Die dürften nicht "wegen Lappalien gleich zum Arzt oder zur Ärztin rennen."

Vier von fünf Kliniken erwarten rote Zahlen

Die Krankenhausgesellschaft verweist darauf, dass die Kinderkliniken als Teil der großen Häuser eben auch von der allgemeinen Finanzmisere betroffen seien. 70 Prozent der Kliniken in Baden-Württemberg haben demnach 2023 Verluste gemacht. "Für 2024 erwarten 80 Prozent der Krankenhäuser rote Zahlen. Das sind historische Höchstwerte, das gab es noch nie", sagt Hauptgeschäftsführer Einwag.

Grund dafür seien vor allem die Kostensteigerungen der vergangenen zwei Jahre. Gesundheitsminister Lauterbach gebe mit seiner geplanten Reform der Krankenhauslandschaft darauf bisher keine Antwort. "Wenn das so bleibt, werden wir in diesem Jahr weitere Klinikinsolvenzen sehen", warnt Einwag. Dass die Kinderkliniken derzeit bundesweit 300 Millionen Euro zusätzlich bekommen, sei auf den ersten Blick gut. "Tatsächlich ist es so, dass uns dieses Geld vorher bei den allgemeinen Mitteln der Krankenhäuser abgezogen wurde."

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