Regale voll mit Akten von Antragstellern stehen im BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. In Bayerns Amtsstuben sind Aktenberge aus Papier auch im Jahr 2020 noch immer Alltag. Doch ihre Zeit ist gezählt.

Egal ob Trinkwasserbrunnen oder Parkhausbau

Bürokratie in BW: Calws Kampf mit dem Dickicht aus Verwaltungsauflagen

Stand
Autor/in
Christian Susanka
Henning Otte
Susann Bühler
Julia Kretschmer

BW will Bürokratie abbauen. Wie nötig das ist, zeigt das Beispiel Calw. Der Oberbürgermeister berichtet, wie Verwaltungsauflagen seinen kommunalen Haushalt und die Zukunft der Stadt gefährden.

90 Minuten dauert der Stadtrundgang durch die Calwer Innenstadt mit dem Oberbürgermeister. Zu sehen gibt es dieses Mal weder das Geburtshaus von Hermann Hesse noch die malerische Nagold. Auch die zusammenhängende historische Fachwerk-Altstadt, für die OB Florian Kling (SPD) in diesen Tagen in Paris um den Titel UNESCO-Weltkulturerbe bitten will, bleibt bei dem Gespräch während der Stadttour außen vor.

Was der Rathauschef an diesem Tag zeigt, fällt nicht in die Kategorie "nice to see", sondern eher in die Sparte "crazy to think about". Kaum eine Straßenecke, kaum ein Platz, an dem Kling keine Geschichte erzählen kann, in der die Bürokratie zugeschlagen hat. Kaum eine städtische Investition gibt es, bei der der OB nicht die Hände über dem Kopf zusammenschlagen will. "Wir haben hier in Calw in den vergangenen vier Jahren viele Veränderungen auf den Weg gebracht", sagt Kling und räumt sogleich ein: "Aber offengestanden war es bei vielen Projekten vor allem ein Siegeszug gegen die Bürokratie."

Nach dem Projekt ist vor der nächsten neuen Auflage

Manchmal habe er aber auch das Gefühl, es sei kein Kampf mehr um die Zukunft der Stadt, sondern eigentlich eher ein Rückzugsgefecht. Wenn man das eine erreicht habe, dann komme wieder eine neue Auflage um die Ecke. "Wir sind am Dokumentieren, wir sind am Berichten. Wir sind am Gebührenbescheide bestätigen, wir sind am Statistiken führen, wir müssen unglaublich viele Genehmigungen einholen, um neue Dinge voranzutreiben", berichtet Kling.

Weder die Bürgerinnen und Bürger noch die Mitarbeiter der Stadtverwaltung verstehen, warum man uns da zwei Prügel zwischen die Beine wirft.

Und das höre nicht auf, wenn das Projekt einmal genehmigt und fertiggestellt sei. Manchmal entstünden nach der Genehmigung neue Auflagen, weil sich ein Gesetz geändert hat, dann werde die Auszahlung von Zuschüssen plötzlich wieder mit neuen Bedingungen und Auflagen versehen. "Da fühlt man sich manchmal einfach als der Alleingelassene, der eigentlich nur Gutes möchte und das umsetzen will. Und weder die Bürgerinnen und Bürger noch die Mitarbeiter der Stadtverwaltung verstehen inzwischen mehr, warum man uns da zwei Prügel zwischen die Beine wirft", so Kling.

Der Calwer OB Florian Kling räumt sein Büro
Immer wenn er etwas für seine Stadt erreicht habe, komme bereits eine neue Auflage um die Ecke, sagt der Calwer Oberbürgermeister Florian Kling (SPD).

Steter Quell der Bürokratie: Ein Trinkwasserbrunnen

Es sollte eine Investition im Zeichen des Klimawandels sein: ein Trinkwasserbrunnen mit frischem Schwarzwald-Quellwasser, der auch in Zeiten von Hitzewellen für angenehme Erfrischung in der Calwer Innenstadt sorgt. Doch spätestens jetzt im Spätherbst kommen dem Calwer OB Zweifel bei der Trinksäule, die an der Gabelung zum Marktplatz steht. Es sind auch hier Zweifel an den Genehmigungsbehörden.

Der Grund: Nach der Fertigstellung sei der Brunnen dreimal so teuer wie geplant. Nicht wegen der Baukosten, sondern wegen der bürokratischen Auflagen, die der städtischen Verwaltung erst im Nachhinein mitgeteilt worden seien. Eine neue Vorschrift: Jede Woche müsse eine Kontrollbesichtigung des Brunnens erfolgen, die wiederum dokumentiert werden müsse. Zudem brauche das Objekt einen Projektplan mit Überprüfung des Wasserdurchflusses und regelmäßiger Entnahme von Wasserproben. Das Absurde dabei, wie der OB ergänzt: Stünde der Trinkwasserbrunnen im Rathaus, entfielen alle diese Vorschriften. Der Brunnen wäre dort im Betrieb also viel günstiger.

Ohne weiße Umrandung keine Zuschüsse

Ein paar Straßen weiter zeigt Florian Kling eine neue Ladestation für insgesamt 25 E-Fahrzeuge, samt Carsharing. Auch hier kamen die Bürokratieprobleme nach der Fertigstellung.

Weil die Ladeplätze in der historischen Altstadt und damit auf historischem Kopfsteinpflaster Platz gefunden haben, verwendete die Stadtverwaltung Reflektoren zur Markierung im Boden plus eine Beschilderung. Damit verletze die Stadt jedoch die Förderrichtlinie, berichtet Kling. Für die Zusage der Fördermittel brauche es eine weiße Bodenmarkierung - auch wenn diese auf dem Kopfsteinpflaster gar keinen Halt habe, erklärt der OB. Dabei ist die Stadt auf die Zuschüsse angewiesen, die jetzt auf dem Spiel stehen. Calw sei keine reiche Stadt und brauche hier deshalb die Subvention von Land und Bund. Er verstehe seine Mitarbeitenden und deren Verzweiflung, wenn ihnen solche Hürden in den Weg gelegt würden.

Kretschmann: Gemeinsam gegen das "Brombeergestrüpp" der Bürokratie

Zur selben Zeit - Mittwoch, 22. November 2023, 9 Uhr - im Landtag von Baden-Württemberg: Auf dem Programm steht eine Regierungsinformation des Ministerpräsidenten. Gut ein Jahr nachdem unter anderem die einflussreichen Kommunalverbände einen offenen Brief "in großer Sorge um unser Land" verfasst und dringend um Maßnahmen zur Entbürokratisierung gebeten hatten. Direkt adressiert an den baden-württembergischen Regierungschef. 

Winfried Kretschmann, sonst ein engagierter Redner, liest zu diesem Thema lediglich den Redetext ab. Er sagt, es brauche eine Kultur des Ermöglichens in der Verwaltung und keine des Verhinderns. Kretschmann spricht vom "Brombeergestrüpp" der Bürokratie. Wildwuchs, den man nur gemeinsam zurückschneiden könne. Und dass dazu viele Hände nötig seien.

Kampf gegen überflüssige Regeln Allianz zum Bürokratieabbau in BW soll kommen

Unternehmen in Baden-Württemberg sehen sich mit einer Flut von Formularen und Vorgaben konfrontiert und fordern weniger Bürokratie. Nun soll es bald Entlastung geben.

Guten Morgen Baden-Württemberg SWR1 Baden-Württemberg

Dazu brauche es auch den Willen der Bürgerinnen und Bürger: "Die Verwaltung könnte viel schlanker sein, wenn die Deutschen nicht so hohe Ansprüche hätten", meint der grüne Ministerpräsident. Immerhin: Baden-Württemberg sei das erste Land, das so etwas wie eine Entlastungsallianz auf den Weg bringe. Man habe in Arbeitsgruppen "Entbürokratisierungspotenziale" ausgemacht: 200 an der Zahl.

Die Verwaltung könnte viel schlanker sein, wenn die Deutschen nicht so hohe Ansprüche hätten.

Für die oppositionelle FDP ist das eine Steilvorlage: "Und wenn du nicht mehr weiter weißt, dann gründe einen Arbeitskreis", kontert in einer ersten Reaktion der Fraktionsvorsitzende Hans-Ulrich Rülke. Die Landesregierung sei neun Monate untätig gewesen und präsentiere nun alten Wein in neuen Schläuchen.

Gemeindetag sieht klaren politischen Auftrag zur Entlastung

Verhalten optimistisch zeigt sich dagegen der Gemeindetag Baden-Württemberg. "Die Beratungen im Landtag waren ein Signal dafür, dass auch der Gesetzgeber die Ziele der Entlastungsallianz unterstützt. Es gibt damit den klaren politischen Auftrag, schnell und wirksam Entlastung zu erwirken", kommentiert der Präsident des Gemeindetags, Steffen Jäger, im Gespräch mit dem SWR. "Dazu braucht es Aufgaben- und Standardkritik, Entbürokratisierung und das Modernisieren von Verwaltung."

Jäger macht im Landtag aber auch noch Skepsis zum gewählten Format aus. "Umso mehr liegt es nun an den Akteuren in der Entlastungsallianz, zu zeigen, dass Ergebnisse im erforderlichen Maß und in der gebotenen Geschwindigkeit erzielt werden. An den Kommunen wird das nicht scheitern", fügt der Gemeindetagspräsident hinzu.

Calwer OB setzt auf die Digitalisierung

Auch Florian Kling verfolgt die Stimmung rund um die Regierungsinformation im Landtag. Der OB von Calw äußert die Erwartung, dass der Einfluss der Kommunalverbände auf den Prozess der Entlastungsallianz zu einer Verbesserung führe. Er hält es immer noch für möglich, die Dinge zum Positiven zu verändern - und verweist als Beispiel auf die Digitalisierung, die seine Stadtverwaltung seit vier Jahren vorantreibe. So sehr wie keine andere Stadt im Land.

Kling hat als gelernter IT-ler selbst angepackt und zur Tastatur gegriffen, um die Verwaltung umzuprogrammieren. "Wir brauchen diese Digitalisierung. Alleine in meiner Amtszeit wird ein Drittel der Mitarbeiter unserer Verwaltung in den Ruhestand gehen. Uns bleibt nur, effizienter und flexibler zu werden."

Calw

Rathaus setzt auf flexible Arbeitsplätze Oberbürgermeister von Calw künftig ohne eigenes Büro

Das Rathaus in Calw setzt konsequent auf Digitalisierung. Dazu gehört auch, dass es künftig keine festen Arbeitsplätze mehr für die Mitarbeiter gibt - nicht einmal für den Oberbürgermeister.

SWR4 BW aus dem Studio Karlsruhe SWR4 BW aus dem Studio Karlsruhe

Ist es ein Parkhaus - oder ein Stellplatz?

Trotzdem will der OB ein weiteres Beispiel für die derzeit dominierende Macht der Bürokratie zeigen. Die Regelungswut und die Reglementierungsblüten, die sie treibt, stelle an vielen Stellen die aktuell prekäre Haushaltslage immer wieder auf den Prüfstand - so auch bei dem im Bau befindlichen Park-and-Ride-Parkhaus, das die Stadt für die zukünftige Hermann-Hesse-Bahn geplant hat.

Wir müssen diese Bürokratie, die andere Bürokratien reguliert, abbauen.

Die Baukosten liegen laut Kling bei viereinhalb Millionen Euro. Bis heute wisse die Stadt nicht, wie viel das Land dazu beisteuert. Der Grund: Eine Landesbehörde zweifle an, dass es sich angesichts der Pläne tatsächlich um ein Parkhaus handele. Weil es aufgrund der topografischen Lage in den Berg gebaut werde und man die Auffahrt in den Hang verlegt und überdacht habe, werde das Parkhaus von einer entscheidenden Behörde als Stellplatz eingestuft. Deswegen solle Calw deutlich weniger Zuschüsse vom Land bekommen als geplant, erzählt der OB. Denn Stellplätze werden anders finanziell gefördert als Parkhäuser.

"Wir müssen diese Bürokratie, die andere Bürokratien reguliert, abbauen", meint Florian Kling. Ob er den Trinkwasserbrunnen nochmal als Projekt angehen würde? Ja, antwortet er zögernd. Und fügt hinzu: Die bürokratischen Auflagen, die den Brunnen unrentabel machen, würden von den Behörden aktuell nicht überprüft. Aus Personalmangel.

Mehr zu Bürokratie in BW

Kampf gegen überflüssige Regeln Allianz zum Bürokratieabbau in BW soll kommen

Unternehmen in Baden-Württemberg sehen sich mit einer Flut von Formularen und Vorgaben konfrontiert und fordern weniger Bürokratie. Nun soll es bald Entlastung geben.

Guten Morgen Baden-Württemberg SWR1 Baden-Württemberg

Stuttgart

Offener Brief an den Ministerpräsidenten Zu viel Bürokratie: Kretschmann soll Reformen starten

Der offene Brief an den BW-Ministerpräsidenten hat den Titel: "In großer Sorge um unser Land". Und er hat es in sich. Darin werden "bürokratische Hürden" und "lähmende Behäbigkeit" angeprangert.

SWR4 BW am Morgen SWR4 Baden-Württemberg

Neulingen, Enzkreis

Gemeinden schreiben Brandbrief an Politiker Rathäuser im Enzkreis brechen unter Flut der Aufgaben fast zusammen

Immer mehr Aufgaben und Verordnungen – viele Verwaltungen sind an ihrer Belastungsgrenze. In einem Brandbrief fordern die Gemeinden im Enzkreis die Politik zum Handeln auf.

SWR4 BW aus dem Studio Karlsruhe SWR4 BW aus dem Studio Karlsruhe

Stuttgart

Spitzentreffen im Staatsministerium geplant CDU-Fraktionschef fordert mehr Tempo beim Bürokratieabbau

"Was kann bleiben, was muss weg?" - CDU-Fraktionschef Manuel Hagel will beim Bürokratieabbau in Baden-Württemberg mehr Tempo. Er schlägt dazu Abstriche beim Daten- und Brandschutz vor.

Guten Morgen Baden-Württemberg SWR1 Baden-Württemberg

Stand
Autor/in
Christian Susanka
Henning Otte
Susann Bühler
Julia Kretschmer

Mehr von SWR Aktuell Baden-Württemberg

Baden-Württemberg

Die wichtigsten News direkt aufs Handy SWR Aktuell Baden-Württemberg ist jetzt auch auf WhatsApp

Der WhatsApp-Kanal von SWR Aktuell bietet die wichtigsten Nachrichten aus Baden-Württemberg, kompakt und abwechslungsreich. So funktioniert er - und so können Sie ihn abonnieren.

Baden-Württemberg

SWR Aktuell - der Morgen in Baden-Württemberg Jetzt abonnieren: Newsletter mit BW-Nachrichten am Morgen!

Sie wollen morgens auf dem neuesten Stand sein? Dann abonnieren Sie "SWR Aktuell - der Morgen in BW". Die News aus Ihrem Bundesland ganz bequem in Ihrem Mailpostfach.