Im Malkurs für Seniorinnen und Senioren der jüdischen Gemeinde Stuttgart steht die Gemeinschaft an erster Stelle. Zuerst gibt es daher Tee und Kaffee, dazu Spekulatius und Schokoladenkekse. Das sei Tradition, sagt Lehrerin Inessa Magero. Denn in ihren Malkursen geht es den Seniorinnen und Seniorinnen der jüdischen Gemeinde Stuttgart nicht nur um die Kunst. Für sie ist der Kurs ein Ort des Austauschs und der Begegnung, sagt die Kursleiterin: "Wir trinken Kaffee, feiern jüdische Feiertage und Geburtstage. Das ist da wichtigste Ziel, wichtiger als alles andere."
Gemeinschaft in der Fremde
Der Wunsch nach Gemeinschaft sei für die meisten der Grund, am Kurs teilzunehmen. "Ich finde den Kurs super, weil viele ältere Leute im hohem Alter allein sind, weil die Ehefrau oder der Ehemann gestorben ist und sie nur noch zuhause sitzen", schwärmt Alla Stopatschinskaia. Die 75-Jährige erfahre dadurch Abwechslung: "Jetzt kommen sie raus, sie sehen ein bisschen weiter."
Es ist eine besondere Gemeinschaft, die im Kurs entsteht: Alle Teilnehmenden teilen eine Migrationserfahrung, sind als Erwachsene aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland umgezogen. Die einen im Zeitraum 1991 - 2005 als sogenannte Kontingentflüchtlinge, die anderen kamen erst vor zwei Jahren, weil sie vor dem russischen Angriffskrieg aus der Ukraine flohen. Im Kurs sprechen sie daher Russisch, die Sprache, die alle aus der alten Heimat kennen.
Ein neues Selbstbewusstsein
Alla Stopatschinskaia selbst habe noch nie einen Pinsel in der Hand gehalten, als sie vor zwei Jahren in den Malkurs kam. Sie fing mit einfachen Naturzeichnungen an. Seitdem habe sie habe sich sehr entwickelt, fügt Kursleiterin Magero hinzu: "Ihr erstes Bild war ein Bild vom Meer, sie hat die untere Hälfte des Bildes dunkelblau gemacht und die obere hell." Jetzt malt Alla Stopatschinskaia vor allem Frauenbilder, aktuell sitzt sie an einer Leinwand mit vier Frauen - jede soll eine andere Jahreszeit symbolisieren.
Im Malkurs ist für sie neben der Gemeinschaft inzwischen auch die Kunst unglaublich wichtig geworden. Zu Malen fördere die Motorik, aber auch ihr Selbstbewusstsein und ihre seelische Gesundheit. "Der Kurs hat mein Selbstbewusstsein entwickelt, das Selbstbewusstsein meine Kreativität und die Kreativität macht mich Stolz. Ich habe das Gefühl: Ich bin etwas wert", sagt Stopatschinskaia und tunkt den Pinsel in die Farbe.
Künstlerinnen und Künstler in den Seniorenkursen
Auch Natalia Semenova ist stolz auf die neuen Fähigkeiten. Nach dem Kunstunterricht in der Grundschule habe auch sie nicht mehr damit zu tun gehabt. "Als ich angefangen habe, konnte ich gar nichts und jetzt mache ich Fortschritte und bekomme viel Lob." Diese Fortschritte verdanke sie ihre Lehrerin. "Sie hat mir alles beigebracht. Jetzt male ich!" Vor allem mache ihr "einfach Spaß" sich mit den anderen Teilnehmern im Kurs zu treffen und zu unterhalten.
Inessa Magero ist fordernd. Sie weiß zwar, dass der Malkurs vor allem der sozialen Integration dient. Aber sie erwartet auch Fortschritte und Engagement. "Die Menschen, die sich bei uns angemeldet haben, haben ein großes Interesse, viele malen auch zuhause. Sie malen immer besser und besser."
Dabei habe Magero den älteren Menschen anfangs gar nichts zugetraut, seit sie einmal Bilder gesehen habe, die in einem Seniorenheim entstanden waren. Auf denen habe sie nur schemenhaft eine grüne Wiese, einen blauer Himmel und ein paar Blumen erkennen können. "Ich habe gedacht: Wieso sie brauchen die eine Kunstlehrerin? Das kann jeder soziale Berater machen, diese Übungen!" Sie hat nunmal einen Anspruch - und fordert ihre Teilnehmenden. Und die sind dankbar dafür: "Ohne unsere Lehrerin würden wir das nicht schaffen", sagt Alla Stopatschinskaia.
Die Ausstellung im Rathaus Stuttgart
Regelmäßig stellen sie ihre Werke auch aus. Meistens werden die gerahmt und im Flur der Kunstschule an der Wand angebracht, während die Ergebnisse aus den Kinderkursen im Kursraum an der Wand hängen. In diesem Jahr aber stellen die Teilnehmer der Seniorenkurse ihre Werke im Stuttgarter Rathaus aus. Etwa 150 Bilder hängen während der Jüdischen Kulturwochen Stuttgart vom 6. - 20. November 2024 im Stuttgarter Rathaus.
Für Lehrerin Magero ist das wichtig: "Das ist normal für jede Künstlerin! Wir machen eine Ausstellung, so wie ein Musiklehrer ein Konzerte spielen muss oder eine Tänzerin eine Tanzdarbietungen gibt." Ihre Schützlinge sind mächtig stolz darauf. "Wir zeigen den anderen, dass wir das im hohen Alter noch gelernt haben! Dass 70 oder 80 Jahre keine Grenze sein muss", sagt Stopatschinskaia.