"Von Normalität kann für Jüdinnen und Juden aktuell keine Rede sein", sagen Elisheva und Elina. Die beiden jüdischen jungen Frauen studieren in Tübingen und engagieren sich in der Jüdischen Studierendenunion Württemberg. Sie sind 24 und 21 Jahre alt, mehr Informationen wollen sie nicht öffentlich über sich preisgeben, aus Sicherheitsgründen.
Für die allermeisten jüdischen Menschen sei es undenkbar geworden, sich als jüdische Person sichtbar zu zeigen, sagen sie: "Antisemitische Gewalt, verbal wie auch physisch, ist Bestandteil des Alltags." Sie seien zu der erschütternden Erkenntnis gelangt, dass sich antisemitische Überzeugungen durch alle Teile der Bevölkerung und Welt ziehen.
Zuletzt mehr als 100 antisemitisch motivierte Straftaten in BW
Und dass Jüdinnen und Juden auch in Baden-Württemberg besonders gefährdet sind, belegen auch die Zahlen: Seit dem 7. Oktober, also dem Tag der Terror-Anschläge der Hamas auf Israel, hat die baden-württembergische Beratungsstelle für Opfer antisemitischer Gewalt und Diskriminierung (OFEK) 27 Beratungsanfragen erhalten. Im deutlich längeren Zeitraum von Juli 2022 bis Juni 2023 hatte es 35 Beratungsanfragen gegeben. In rund vier Wochen kamen zuletzt also fast so viele Anfragen zusammen wie zuvor in einem ganzen Jahr.
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Und auch die Strafverfolgungsstatistik deutet in diese Richtung: Von 2019 bis 2022 hat es in BW 160 Verurteilungen wegen antisemitisch motivierter Straftaten gegeben, Tendenz steigend. Waren es 2019 noch 19 Verurteilungen, stieg die Zahl 2022 auf 66. Das geht aus dem zweiten Tätigkeitsbericht des Beauftragen der Landesregierung gegen Antisemitismus, Michael Blume, hervor. Damit gab es 84 Prozent mehr antisemitischer Straftaten als in Blumes erstem Tätigkeitsbericht aus dem Jahr 2019. Darin nicht berücksichtigt sind die Entwicklungen seit dem 7. Oktober dieses Jahres, dem Tag der brutalen Terrorattacke der Hamas auf die Menschen in Israel. Doch ist der Tag eine Zäsur für Jüdinnen und Juden - auch in Baden-Württemberg.
Jüdisches Leben nur unter Polizeischutz
Wie das Innenministerium auf SWR-Anfrage mitteilt, wurden einer zentralen Antisemitismus-Koordinierungsstelle beim Landeskriminalamt Baden-Württemberg seit den Terroranschlägen "Straftaten und Aktionen im niedrigen dreistelligen Bereich in Baden-Württemberg gemeldet". Dabei handele es sich überwiegend um die Beschädigung oder das Entfernen von Israel-Flaggen, die in der Öffentlichkeit aufgehängt wurden. Auch Farbschmierereien mit volksverhetzendem Inhalt seien häufig, körperliche Übergriffe hingegen eher selten.
Laut Innenministerium hat die Polizei von Baden-Württemberg den Schutz jüdischer und israelitischer Einrichtungen intensiviert. Mit Blick auf den 85. Jahrestag der Reichspogromnacht am Donnerstag erklärte eine Ministeriumssprecherin: Die örtlich zuständigen Polizeipräsidien träfen lageorientiert alle erforderlichen Maßnahmen, um den Schutz jüdisch-israelitischer Einrichtungen zu gewährleisten.
Wenn Polizeischutz nötig ist, könne aber ohnehin nicht von einem alltäglichen jüdischen Leben die Rede sein, geben die jüdischen Studentinnen Elisheva und Elina aus Tübingen zu bedenken. "Ein Leben, in dem man nur jüdisch in der Öffentlichkeit sein kann, wenn Polizeischutz gewährleistet wird, bleibt alltägliches jüdisches Leben unter Vorbehalt."
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Antisemitismus-Beauftragter sieht BW gut aufgestellt
Der Beauftragte der Landesregierung gegen Antisemitismus, Blume, zeigt sich einerseits erleichtert: Es gebe "bisher Gott sei Dank seit dem Terrorpogrom gegen Israel vom 7. Oktober keine Gewalttaten gegen jüdische Menschen in Baden-Württemberg", allerdings spalte die digitale Terrorpropaganda der Hamas auch die Menschen hier im Land. Blume, selbst CDU-Mitglied, beklagt, dass vor allem Linke zu wenig Solidarität für die Menschen in Israel zeigten. Im linken Milieu gebe es zu oft "anti-israelisches Halbwissen und autoritäre Selbstgerechtigkeit", die nur schwer zu ertragen sei, so Blume.
Insgesamt sieht Blume die Polizei und Behörden in Baden-Württemberg im Kampf gegen Antisemitismus gut aufgestellt. Es gebe schon seit Jahren ein gemeinsames Sicherheitskonzept mit der Landespolizei und jüdischen Gemeinden, das alle Orte jüdischen Lebens umfasst. Auch wurden und werden muslimische Gruppen gegen Antisemitismus aufgeklärt. "Diese gewachsene Zusammenarbeit stärkt natürlich heute auch das Sicherheitsgefühl," so Blume. Er empfiehlt auch anderen Bundesländern in ruhigeren Zeiten Vertrauen aufzubauen, um dann in Krisen schnell reagieren zu können.
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Antisemitismus: Besser Prävention statt Reaktion
Doch auch in Baden-Württemberg gebe es antisemitisch geprägte Parallelgesellschaften, so Blume. Um auch diese zu erreichen, habe er vorgeschlagen, mit dem Sozial-, Kultus- und Wissenschaftsministerium Mindeststandards zu entwickeln. Sie sollen festlegen, was in jedem Kindergarten, jeder Schule und Hochschule an Wissen über jüdisches Leben und über Israel vermittelt werden sollte.
Diesen Weg halten auch die jüdischen Studentinnen Elisheva und Elina aus Tübingen für den richtigen. Sie finden, das Ziel sollte nicht sein, möglichst viel Polizei in Restaurants, Clubs, et cetera aufzustellen, um jüdisches Leben bestmöglich zu schützen. Besser wäre es, explizit und effizient gegen Antisemitismus vorzugehen, sodass breit angelegte Schutzmaßnahmen nicht mehr notwendig seien, sagen sie. Erst dann könnten Jüdinnen und Juden in Baden-Württemberg ein normales Leben führen.