Betroffener berichtet

Betrunken auf dem E-Scooter: Immer mehr Unfälle in BW - Enorme Konsequenzen für Fahrer

Stand
Autor/in
Oliver Linsenmaier
Bild von Oliver Linsenmaier

Betrunkene E-Scooter-Fahrer verursachen in BW mehr Unfälle als je zuvor. Da die Promillegrenze wie für Autofahrer gilt, verlieren viele Menschen so auch lange ihren Führerschein.

Eigentlich sind es nur wenige hundert Meter bis zur nächsten Bar, die Matze L. (Name von der Redaktion geändert) auch kurz laufen könnte. Bequemer ist aber eine kurze Fahrt mit dem E-Scooter. Also schnappt sich der stark alkoholisierte junge Mann den nächstbesten Roller, die überall im Stuttgarter Stadtgebiet und eigentlich in fast allen größeren Städten in Baden-Württemberg zu finden sind. Was folgt wird sein Leben im kommenden Jahr massiv beeinflussen: Polizei- und Alkoholkontrolle, 1,9 Promille, Fahrverbot, Führerscheinentzug, Medizinisch-Psychologische Untersuchung (MPU), regelmäßige Alkohol- und Drogentests sowie Gesamtkosten in Höhe von etwa 8.000 Euro. "Das System verurteilt einen komplett. Man fühlt sich wie der Abschaum der Gesellschaft", sagt er. "Und die ganze Tortur ging 13 Monate."

Doch Matze L. ist längst nicht der Einzige, der solche Konsequenzen tragen musste und muss. Zwar erfasst das Kraftfahrt-Bundesamt in Flensburg nicht, wie viele Führerscheine von betrunkenen E-Scooter-Fahrerinnen und -Fahrern eingezogen wurden. Allerdings lässt sich aus der aktuellen Verkehrsunfallstatistik eine klare Tendenz ablesen.

Immer mehr Unfälle mit E-Scootern in Baden-Württemberg

So gab es in Baden-Württemberg im vergangenen Jahr 2022 insgesamt 834 Verkehrsunfälle mit E-Scootern, die formal als sogenannte elektronische Kleinstfahrzeuge mit Lenkstange (eKF) bezeichnet werden. Dabei starben zwei E-Scooter-Fahrer, 98 Personen wurden schwer verletzt. Jeder fünfte Unfall passierte unter Alkoholeinfluss. "Damit ist Alkohol bei diesen Verkehrsunfällen mit Abstand die Unfallursache Nummer eins und rangiert noch vor überhöhter beziehungsweise nicht angepasster Geschwindigkeit", teilt das Innenministerium auf SWR-Anfrage mit.

Dass die Unfälle mit E-Scootern immer weiter zunehmen, wird beim Blick auf die Zahlen der vergangenen Jahre deutlich. So gab es in Baden-Württemberg im Jahr 2020 insgesamt 241 Unfälle mit 36 Schwerverletzen. Im Jahr 2021 verdoppelte sich der Wert auf 570 bei 63 Schwerverletzten und zwei Toten.

Immer mehr Unfälle unter Alkoholeinfluss

Besonders deutlich wird diese Entwicklung in der Landeshauptstadt. Gab es 2019 gerade einmal 16 Unfälle mit E-Scootern stieg die Zahl in den Folgejahren auf 44 (2020) und 147 (2021) im gesamten Stuttgarter Stadtgebiet. Die Unfälle wegen Alkohol- oder Drogeneinfluss nahmen von fünf (2019) über 15 (2020) auf 36 im Jahr 2021 zu. Besonders betroffen davon: Stuttgart-Mitte mit seinen vielen Bars und Clubs.

Polizeigewerkschaft BW fordert mehr Kontrollen

"Diese Entwicklung zeigt, dass es notwendig ist, die Führer von Elektro-Kleinstfahrzeuge auf ihre Fahrtüchtigkeit zu überprüfen", sagt Gundram Lottmann, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei Baden-Württemberg (GdP), auf SWR-Anfrage. Er fordert daher eine Ausweitung der Kontrollen. Härtere Strafen sind aus seiner Sicht aber nicht notwendig. Vielmehr müsse "die Justiz die geltenden Strafnormen konsequent anwenden und den Strafrahmen ausschöpfen".

Ein Jahr lang gar keinen Alkohol

Wie das aussehen kann, bekam Matze L. zu spüren. Nach seiner Trunkenheitsfahrt im Oktober 2021 mit 1,9 Promille erhielt er ein Fahrverbot. Der Führerschein wurde eingezogen und eine medizinisch-psychologische Untersuchung (MPU) angeordnet. Neben regelmäßigen Sitzungen mit einer Psychologin gehörten dazu auch Haartests, mit denen er nachweisen musste, für ein Jahr absolut keinen Alkohol getrunken zu haben.

Während die grundsätzliche Abstinenz von alkoholischen Getränken recht einfach umzusetzen war, wurde es beim Essen komplizierter. Denn in vielen Soßen und anderen Lebensmitteln, wie beispielsweise Essig, ist auch Alkohol enthalten. Um nicht das Risiko einzugehen, im Zweifel deswegen durch die Alkoholtests zu fallen, kontrollierte Matze L. permanent, in welchen Speisen Alkohol enthalten sein könnte. 

"Am Anfang ist man völlig gestresst, denn man weiß gar nicht, worauf man achten muss. So etwas wie Zwiebelrostbraten im Restaurant geht absolut gar nicht mehr."

Hinzu kamen viele bürokratische Prozesse, wie fristgerechte Anträge oder Termine, die Monate im Voraus vereinbart werden mussten. "Es ist auf jeden Fall ein Riesenapparat an Planung und Orga", sagt Matze L. Besonders belastend war dabei die MPU an sich: "Man zieht sich komplett aus. Der Typ analysiert einen von oben bis unten, von links bis rechts."

Dass eine Strafe kommt und man Konsequenzen tragen muss, ist für Matze L. vollkommen verständlich. Nur das Verhältnis stimmt für ihn nicht. "Es ist mental ein Unterschied, ob ich betrunken ins Auto steige oder betrunken den E-Scooter fahre", sagt er.

Gleicher Alkoholgrenzwert für Auto- und E-Scooter-Fahrer

Doch rechtlich gesehen gelten aktuell die gleichen Alkoholgrenzwerte für das Fahren mit dem E-Scooter wie beim Autofahren. Daran will das baden-württembergische Innenministerium auch vorerst nichts ändern, wie die Pressestelle auf SWR-Anfrage mitteilt: "Jeder vierte Unfall mit Personenschaden, der im vergangenen Jahr von einem eKF-Nutzenden verursacht wurde, ist auf Alkoholeinfluss zurückzuführen. Bei den Pedelec-Nutzenden war es jeder neunte Unfall. Vor diesem Hintergrund liegt gegenwärtig keine Rechtfertigung für eine Anhebung der Grenzwerte vor."

Verkehrsexperten: Führerscheinentzug nicht zwingend notwendig

Etwas anders bewertet der Deutsche Verkehrsgerichtstag, der jüngst in Goslar (Niedersachsen) stattgefunden hat, die rechtliche Situation. Die von der Deutschen Akademie für Verkehrswissenschaft jährlich ausgerichtete Konferenz schlägt vor, dass betrunkenen E-Scooter-Fahrern und -Fahrerinnen nicht zwingend der Führerschein entzogen wird. Aus Sicht der Verkehrsexperten reicht ein Fahrverbot eigentlich aus.

E-Scooter-Anbieter fordern Gleichstellung mit E-Bikes

Eine gewisse gesetzliche Entschärfung fordert auch die "Plattform Shared Mobility" (PSM), ein privatwirtschaftlicher Verbund, zu dem unter anderem die E-Scooter-Verleihs Bolt, Lime und Voi gehören. Man unterstütze die geltenden Grenzwerte und Richtlinien, heißt es auf SWR-Anfrage. Allerdings fordert die PSM die Gleichsetzung der E-Scooter mit dem Radverkehr: "Die Anbieter sind der Ansicht, dass die geltenden Grenzwerte und Richtlinien, insbesondere für Fahrten unter Alkoholeinfluss, für E-Scooter und E-Bikes im gleichen Maße gelten sollten."

Man appelliere an die Fahrer und Fahrerinnen, die E-Scooter nicht unter Alkoholeinfluss zu nutzen, so die PSM. Auch gebe es entsprechende Sicherheitshinweise und Fahrtüchtigkeitstests in den jeweiligen Apps. Doch aus Sicht der Gewerkschaft der Polizei Baden-Württemberg entfaltet das nicht die gewünschte Wirkung.

"Mit dem Aufsteigen auf den E-Scooter blenden viele Verkehrsteilnehmende grundlegendste Regeln des sicheren Miteinander im öffentlichen Verkehrsraum aus. Ampeln, Verkehrszeichen, Fahrtrichtungen: All dies scheint keine Rolle mehr zu spielen. Aber die Benutzung eines E-Scooters bietet keinen Freibrief für rücksichtsloses Verhalten im Straßenverkehr."

Polizeigewerkschaft fordert mehr präventive Maßnahmen

Für den GdP-Vorsitzenden Lottmann braucht es mehr präventive Maßnahmen. Auch eine Helmpflicht müsse geprüft werden, um schwere und tödliche Unfälle zu vermeiden. Die PSM empfiehlt derweil einen Zehn-Punkte-Plan für Städte und mehr Verkehrssicherheitskampagnen.

Zu diesem Schluss kommt mittlerweile auch Matze L. Seinen Führerschein bekam er nach 13 Monaten im November 2022 wieder. Rückblickend kann er vor allem den Gesprächen mit seiner Psychologin einiges abgewinnen. "Da ging es spannenderweise aber nie darum, dass ich ein fettes Alkoholthema habe, sondern eher, wie man das in Zukunft besser machen kann", sagt er. "Das waren für mich die wertvollsten Stunden."

Betroffener fordert nachhaltigere Sanktionen

Die "Qual MPU", wie Matze L. sie beschreibt, macht aus seiner Sicht wenig Sinn. "Nach einem Jahr durchpeitschen tun alle so, als ob gar nichts gewesen wäre. Das ist auch nicht das Richtige", sagt er. Ein halbes Jahr Führerscheinentzug und eine Geldbuße gepaart mit regelmäßigen Sitzungen bei Psychologen wären für ihn nachhaltiger.

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