Direkte Demokratie und Bürokratie

"Politik des Gehörtwerdens": Hohe Hürden für Bürger in BW

Stand
Autor/in
Tim Kukral
Tim Kukral ist Teil des Teams von "Zur Sache! Baden-Württemberg".

Ministerpräsident Kretschmann versprach eine "Politik des Gehörtwerdens". Doch für Bürger, die gehört werden oder gar mitbestimmen wollen, gibt es immer noch hohe Hürden.

Vor zwölf Jahren, nach seinem Antritt als Ministerpräsident, hat Winfried Kretschmann (Grüne) eine "Politik des Gehörtwerdens" versprochen. Wie hoch die Hürden direkter Bürokratie sind, zeigt das Beispiel von Corinna Fellner und Anja Plesch-Krubner.

Die beiden Mütter waren im vergangenen November noch guter Dinge. Damals haben sie damit begonnen, Unterschriften zu sammeln für einen Volksantrag. Sie waren sicher, mit einer breiten Unterstützung rechnen zu können für ihr Anliegen: eine Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium. Das - oder zumindest eine Möglichkeit zur Wahl zwischen G8 und G9 - wünschen sich Umfragen zufolge rund 90 Prozent der Eltern von Gymnasiastinnen und Gymnasiasten.

Mit dem Volksantrag "G9-Gesetz" wollen Fellner und Plesch-Krubner erreichen, dass sich der Landtag mit dem Thema beschäftigt. Dafür brauchen sie die Unterschriften von 0,5 Prozent der Wahlberechtigten - in Baden-Württemberg sind das knapp 39.000 Menschen. Ein Jahr lang haben sie dafür Zeit; bei einem Thema, zu dem so viele Eltern eine klare Meinung haben. "Das wird schon klappen", dachte Corinna Fellner beim Start vor neun Monaten. Doch jetzt könnte es tatsächlich sein, dass das Vorhaben scheitert: "Wir hinken hinterher."

Für jede Unterschrift ein eigenes Formblatt

Denn in der Praxis gibt es viele Hürden. So dürfen die beiden Initiatorinnen des Volksantrags die Unterschriften nicht einfach auf einer Liste sammeln, sondern: Jede Unterschrift muss einzeln auf einem Formblatt eingetragen werden. Auf diesem Formblatt muss außerdem ein Amt mit Unterschrift und Siegel bescheinigen, dass die unterschreibende Person in Baden-Württemberg wahlberechtigt ist. Erst dann sollten Unterstützerinnen und Unterstützer ihre Unterschrift an die Initiatorinnen schicken. Wenn Formblätter nicht bestätigt wurden, müssen die Initiatorinnen sie selbst - auf eigene Kosten - zur Bescheinigung an die verschiedenen Ämter schicken.

Wo das Formblatt bescheinigt werden kann, ist je nach Kommune anders geregelt. In kleineren Gemeinden ist es oft das Rathaus, in größeren ist es die sogenannte Wahldienststelle - in Stuttgart beispielsweise das Statistische Amt. Allerdings können in größeren Kommunen auch die sogenannten Bürgerbüros bescheinigen, dass man wahlberechtigt ist, oder das Formblatt zumindest an die Wahldienststelle weiterleiten. Das Problem: Viele Rathäuser und Bürgerbüros wussten zunächst gar nicht, dass ihnen diese Aufgabe zufällt. Vielerorts wurden Bürger, die sich ihre Formblätter bescheinigen lassen wollten, abgewiesen; per Post zugestellte Formblätter wurden von Ämtern ignoriert.

In acht Jahren hatte nur ein Volksantrag in BW Erfolg

In Baden-Württemberg gibt es seit 2015 die Möglichkeit, einen Volksantrag zu stellen. In den acht Jahren, die seitdem vergangen sind, hatte nur ein einziger Volksantrag Erfolg. Es ging dabei um den Schutz der heimischen Landwirtschaft, Antragsteller waren mehrere mitgliederstarke Bauernverbände. Für Initiatoren, die nicht auf ein solches Netzwerk zurückgreifen können, sei das Prozedere dagegen nur schwer zu bewältigen, sagt Fellner: "Das merkt man schnell, wenn man das einmal mitmacht."

Immerhin hat die Landesregierung die G9-Initiative offenbar wahrgenommen: Sie hat nämlich inzwischen ein sogenanntes "Bürgerforum G8/G9" ins Leben gerufen. Für die Initiatorinnen des Volksantrags einerseits ein Erfolg - andererseits auch ein Problem. "Viele denken jetzt schon, wir hätten es geschafft", so Fellner, die das Thema dennoch durch den Volksantrag in den Landtag bringen will. Denn was aus dem Bürgerforum folgt, und ob überhaupt etwas daraus folgt: Das ist völlig offen.

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Bürgerforen "oft wie eine Alibiveranstaltung"

Das Bürgerforum kann der Politik lediglich eine unverbindliche Empfehlung geben. Edgar Wunder vom Verein "Mehr Demokratie" sieht die Foren deshalb in der Form, wie Regierungen in Deutschland sie bislang handhaben, kritisch: "Das wirkt oft wie eine Alibiveranstaltung." Das gelte auch für das "Bürgerforum G8/G9". Wunder befürchtet: "Das Forum soll der G9-Initiative den Wind aus den Segeln nehmen."

Als Landesvorsitzender von "Mehr Demokratie" setzt sich Wunder für mehr direkte Demokratie und Bürgerbeteiligung ein und berät Menschen, die Volksanträge und -begehren einreichen möchten. Seine Forderung:

"Wir müssen verbindliche Verfahren stärken, die Hürden für Volksabstimmungen senken."

Auch Bürgerforen seien, wenn man sie richtig einsetzt, ein gutes Instrument, findet er. Es könne aber auch Schaden anrichten: "Etwa dann, wenn zu einem Thema eigentlich schon alles ausdiskutiert ist." Bei G8/G9 sei das der Fall, so Wunder: "Alle Argumente liegen seit Jahren auf dem Tisch. Eine Volksabstimmung wäre jetzt das richtige." Das Bürgerforum werde die Sache nicht voranbringen, befürchtet er: Es wirke vielmehr "wie eine Bremse".

Auch, dass nur wenige Bürgerinnen und Bürger an einem solchen Forum teilnehmen können, kritisiert Wunder. Beim Bürgerforum zur Corona-Pandemie waren es 50 Personen - bei mehr als elf Millionen Einwohnern in Baden-Württemberg. "Ein Lottogewinn ist wahrscheinlicher", so Wunder.

Ein Bürgerforum soll die Landesregierung dabei beraten, ob Baden-Württemberg zum Abitur nach neun Jahren zurückkehrt. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) stellte im Juni klar, wie stark die Bürgerbeteiligung seiner Ansicht nach sein darf:

"Politik des Gehörtwerdens" war Reaktion auf S21-Konflikt

Aus Sicht der Landesregierung sind Bürgerforen ein wichtiger Teil der "Politik des Gehörtwerdens". Diese hatte Kretschmann nach seinem Amtstritt als Ministerpräsident 2011 versprochen. Kurz zuvor war der Streit rund um das Bahnprojekt "Stuttgart 21" eskaliert, hatte die seit mehr als einem halben Jahrhundert in Baden-Württemberg regierende CDU die Macht gekostet und Kretschmanns Grüne - damals gemeinsam mit der SPD - an die Regierung gebracht. Für die grün-rote Koalition galt es, das Land wieder zu befrieden. In der Folge kam es zum ersten Mal seit vier Jahrzehnten in Baden-Württemberg zu einer Volksabstimmung, Ergebnis: Knapp 59 Prozent stimmten dafür, dass die Landesregierung Stuttgart 21 mitfinanziert.

2015 senkte die grün-rote Regierung dann die Hürden für die Mitbestimmung:

  • Sie führte die Möglichkeit des Volksantrags ein
  • Sie reduzierte die Zahl der benötigten Unterschriften für ein erfolgreiches Volksbegehren
  • Sie senkte das Abstimmungsquorum im Falle eines Volksentscheids

Baden-Württemberg bei direkter Demokratie durchschnittlich

"Mehr Demokratie" vergleicht regelmäßig, wie bürgerfreundlich die direkte Demokratie in den 16 Bundesländern geregelt ist. Baden-Württemberg lag vor der Reform von 2015 auf dem letzten Platz; inzwischen liegt das Land mit Platz acht im Mittelfeld. Für die Mitbestimmungsmöglichkeiten auf kommunaler Ebene bekommt Baden-Württemberg von dem Verein die Schulnote 2,7; auf Landesebene gibt es nur eine 3,5. Im Gesamtranking ergibt das eine 3,1.

Denn trotz Reform: Die Hürden sind weiterhin hoch, die Regeln starr. So darf beispielsweise der Gesetzentwurf, der einem Volksantrag oder Volksbegehren zugrunde liegt, nicht mehr verändert werden, sobald das Verfahren gestartet ist. Da haben die Parlamente mehr Spielraum. Hier gilt in der Praxis: Kein Gesetz verlässt den Landtag so, wie es hineingekommen ist.

Erschwert wird die bürgerliche Mitbestimmung vor allem dadurch, dass die Gesetzgebung noch aus der vordigitalen Ära stammt. Für ein Volksbegehren müssen die Initiatoren alle Kommunen im Land mit ausreichend vielen Unterschriftenlisten versorgen - auf eigene Kosten. Im digitalen Zeitalter sollte es nach Meinung von "Mehr Demokratie" eigentlich reichen, eine PDF-Datei zu schicken, die die Kommunen dann ausdrucken und bedarfsgerecht nachdrucken könnten.

Beamte arbeiten laut Fellner nicht immer korrekt

Unterschriftenlisten - davon können Corinna Fellner und Anja Plesch-Krubner nur träumen. Für ihren Volksantrag für ein G9-Gesetz brauchen sie schließlich für die Unterschrift von jedem Unterstützer, jeder Unterstützerin ein eigenes Formblatt. Seit neun Monaten sammeln sie: Blatt für Blatt. Corinna Fellner hat dafür viele große Kartons bei sich zu Hause stehen. Sie hofft, dass bis November alle Kartons gefüllt sind. Dann wären 39.000 Stimmen erreicht - vorausgesetzt, alle Unterschriften wurden von den Ämtern korrekt bescheinigt.

Das ist allerdings nicht garantiert. Fellner zufolge ist nämlich in etwa jedes zehnte Formblatt fehlerhaft. Der Fehler liege dabei in der Regel nicht bei den Bürgern, sondern bei den Beamten, die die Blätter prüfen: "Da fehlt dann mal der Stempel, mal die Unterschrift, oder jemand hat nicht das richtige Kästchen angekreuzt." Solche Blätter sind dann nicht gültig - auch, wenn nicht der Unterstützer des Volksantrags, sondern ein Beamter den Fehler gemacht hat.

Sie führt deshalb viele Telefonate mit Behörden, schickt Formblätter auf eigene Kosten zurück, damit sie korrigiert werden. Das nimmt viel Zeit in Anspruch, und nicht immer ist sie erfolgreich. "Damit wir sicher sein können, dass der Landtag unseren Antrag auch annimmt", sagt Fellner deshalb, "sollten wir lieber mehr als 39.000 Blätter sammeln".

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