Mehrere tausend niedergelassene Ärztinnen und Ärzte haben am Mittwoch gemeinsam mit ihren Praxisteams auf dem Stuttgarter Schlossplatz gegen die aus ihrer Sicht fehlgeleitete Gesundheitspolitik demonstriert. Sie forderten unter anderem weniger Bürokratie und mehr Geld für eine bessere Patientenversorgung. Die Veranstalter sprachen von rund 3.000 Teilnehmern und Teilnehmerinnen. Die Demonstrierenden trugen teils Arztkittel und reckten Schilder in die Höhe, auf denen "Mehr Zeit für Patienten" oder "Die Politik wacht erst auf, wenn die letzte Praxis zu ist" zu lesen war.
Die Rednerinnen und Redner kritisierten unter anderem überbordende Bürokratie und ineffiziente Digitalisierung, die in den Praxen für viel Arbeit sorge. "Uns wird eine Digitalisierung aufgezwängt, die zwar gut gedacht, aber schlecht gemacht ist", sagte Norbert Smetak, stellvertretender Vorsitzender des Medi-Verbunds, der die Kundgebung organisiert hatte. Der Verbund vertritt nach eigenen Angaben rund 5.000 niedergelassene Ärztinnen und Ärzte in Baden-Württemberg.
Kritik an Wegfall der "Neupatientenregelung"
Außerdem kritisieren die Ärztinnen und Ärzte eine aus ihrer Sicht überholte Gebührenordnung sowie den Wegfall der sogenannten Neupatientenregelung. Diese garantierte den Praxen, dass sie für neu aufgenommene Patientinnen und Patienten ein zusätzliches Honorar bekamen. "Mit dem Wegfall wächst die Terminnot wieder", sagte Smetak.
Unterstützung erhielten die Ärztinnen und Ärzte von der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg. Die Praxen seien das Rückgrat der medizinischen Versorgung, sagte deren Vorsitzender Karsten Braun. "Wenn hier die Versorgung als gefährdet angesehen wird, ist das mehr als ein Alarmzeichen." Es brauche weniger Bürokratie und ein zeitgemäßeres Vergütungssystem, das etwa auch zur Entlastung angestelltes Personal abbilde.
Eine der Ärztinnen, die sich am Protest in Stuttgart beteiligte, ist die Tübinger Frauenärztin Ruth Mayer. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Eva Neunhoeffer hat sie eine Online-Petition zur Rettung der ambulanten Versorgung gestartet.
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Petition gegen "Unterfinanzierung und Mangelverwaltung"
Darin prangern die beiden Medizinerinnen "ein System der Unterfinanzierung und Mangelverwaltung" an. Mit Budgetierung und Pauschalen hätten Politik und Krankenkassen dafür gesorgt, dass das Wohl der Patientinnen und Patienten außen vor bleibe.
Inzwischen seien Vergütung und Arbeitsbedingungen so schlecht, dass sich niemand mehr in Niederlassung begeben wolle. "So geht es nicht mehr weiter", finden die Ärztinnen. Die Grenze des Verantwortbaren sei längst überschritten.
Ärztemangel: Mediziner arbeiten auch im Alter noch weiter
Wegen des Mangels an niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten arbeiten an vielen Orten Mediziner auch dann noch weiter, wenn sie schon längst in Rente sein sollten. So arbeitet der mittlerweile 76-jährige Hausarzt Herbert Neuwirth aus Obereisesheim bei Neckarsulm (Kreis Heilbronn) noch immer mit in der Praxis, die längst sein Sohn Tobias übernommen hat. Dort werde er auch gebraucht, sagt der Junior.
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Pensionierungswelle droht Situation zu verschärfen
Laut dem Sprecher der Ärzteschaft Heilbronn, Martin Uellner, sind 40 Prozent der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte in Heilbronn älter als 61 Jahre - dies sei beispielhaft für andere Städte in Baden-Württemberg. Er rechnet damit, dass in fünf Jahren die Zahl der Ärztinnen und Ärzte in Heilbronn um ein Drittel zurückgeht, die Anzahl der Praxen sogar um die Hälfte. Das würde dann bedeuten, dass bis zu 30 Prozent der Heilbronnerinnen und Heilbronner keinen Hausarzt oder keine Hausärztin mehr hätten.
Auch Uellner selbst betreibt mit 63 Jahren im Stadtteil Böckingen noch selbst eine Praxis. Nachdem eine Praxis in der Nachbarschaft geschlossen wurde, sei auch bei ihm eine Patientin aufgeschlagen und habe um eine Aufnahme gebeten und gebettelt, sie habe drei Krebsarten und keinen Hausarzt mehr. Sowohl er als auch Neuwirth haben sich dem Protest auf dem Schlossplatz in Stuttgart angeschlossen.