Sabine Liebner interpretiert Karlheinz Stockhausen

Zeitmaschinen: Klavierstücke Nr. 1-11

Stand
Autor/in
Reinhard Ermen
Künstler/in
Sabine Liebner (Klavier)

CD-Tipp vom 2.10.2018

Die Münchner Pianistin Sabine Liebner ist eine Spezialistin für Neue Musik. Das ist keinesfalls eine Einschränkung, denn das, was die Musik der Gegenwart zu bieten hat, ist eine eigene große Welt.

Obwohl Karlheinz Stockhausen in den frühen 50er Jahren die elektronische Musik für sich entdeckt, kehrt er zwischendurch wieder zum Klavier zurück. Anscheinend kann man mit diesem Instrument komplexe Reihen von Tonhöhen und Dauern realisieren, die sich der Messgenauigkeit der Elektronik entziehen, so stellt der Komponist es sinngemäß bereits 1955 fest. Mit einem gewissen Understatement kategorisiert Stockhausen diese Grundlagenarbeit als „Klavierstücke“. Man könnte das mit einem Bildhauer oder Maler vergleichen, der immer wieder auf die Zeichnung zurückkommt. Dafür braucht der Komponist den natürlichen Atem seiner Interpreten, die den komplexen Preziosen Leben einhauchen.

Aufforderung zum Hören zwischen den Zeilen

Sabine Liebner ist eine solche Interpretin. Sie ist beileibe nicht die erste, die sich an diese Literatur wagt, aber ihr gelingt die schwer zu beschreibende Leichtigkeit im Verein mit einer selbstredend exorbitanten Präzision. Zu hören sind empfindsame Kostbarkeiten mit einem bizarren Charme. Das ist Musik, die auch zum Hören zwischen den Zeilen auffordert. Stockhausen selbst empfiehlt, auf die (komponierten) Pausen zu achten. Der Klang gruppiert sich so gelegentlich um exakt ausgezählte Akzente, die als sinnerfüllte Leerstellen ihre ganz eigene Interpunktionsebene bilden.

Ein Kompendium der Möglichkeiten

Von den insgesamt 19 Klavierstücken spielt Sabine Liebner die ersten 11, die in den 50er Jahren einen eigenen (puristischen) Kanon für das Instrument bilden. Gelegentlich spricht Stockhausen von „Zeitmaschinen“, die ihre Zuhörer mitnehmen aber auch fordern. Er komponiert ein Kompendium der Möglichkeiten, wenn man so will als Kunst der seriellen Polyphonie. Seine Musik ist keinesfalls voraussetzungslos, aber der Mann reizt das Zukunftspotential seiner neuen Verfahrensweisen kompromisslos aus. Neben den hochsensiblen Millimeterdramen, wie sie zum Beispiel in den eben gehörten Ausschnitten aus der Nummer 6 anklangen, gibt es in der Nummer 9 die wuchtige Ballung eines immergleichen Akkords, der 142mal anzuschlagen ist.

Alles geschieht, weil es sein muss

Von Anfang an fasziniert eine Art innere Notwendigkeit. Alles, was hier geschieht, geschieht, weil es sein muss! Das klingt manchmal wie ferngesteuert durch ein System, das schon mal mit einer fatalistisch-melancholischen Note daherkommt, die das Zeug hat, richtiggehend zu ergreifen. Man muss sich nur auf diese Musik, die ziemlich weit weg vom Mainstream angesiedelt ist, einlassen. – Klavierstück 7, der Anfang, die ersten 15 Sekunden, und nicht nur die, bekommen durch Liebner eine ganz eigene Farbe.

Der Notentext ist bis ins kleinste Detail ausgezeichnet. Doch im Klavierstück 11 gewährt der Komponist erstaunliche Freiheiten. Auf einem großen Bogen sind insgesamt 19 Fragmente versammelt, die von den Pianisten nach deutlichen und gleichzeitig generösen Leitlinien zusammenzuführen sind.

...schreibt Stockhausen in der ’Gebrauchsanweisung‘. Das klingt jetzt so, als solle man das einfach so vom Blatt spielen. Die Kunst der Interpretation besteht indessen darin, genau das zu evozieren und die Vorarbeit dabei vergessen zu machen. Aber das war schon immer so, egal ob es um Stockhausen oder Mozart geht. Sabine Liebner gelingt das, sie bietet, was inzwischen eine gute Tradition ist, zwei Spielarten der Nummer 11 an. Die zweite Version, die mit einer energisch-nachdenklichen Einstiegsgeste beginnt, packt die Zuhörer vom ersten Ton an.

CD-Tipp vom 2.10.2018 aus der Sendung SWR2 Treffpunkt Klassik

Stand
Autor/in
Reinhard Ermen
Künstler/in
Sabine Liebner (Klavier)