Erste Biografie über einen fast vergessenen Dirigenten

Bereichernd

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AUTOR/IN
Christoph Vratz

Buchkritik vom 30.11.2016

Er zählt nicht zu den großen Namen, eher zu den Vergessenen: der ungarische Dirigent Eugen Szenkar, der 1977 in Düsseldorf gestorben ist und sich immer wieder für die damalige Avantgarde, also die Musik des 20. Jahrhunderts, stark gemacht hat. Vor zwei Jahren erschien seine Autobiografie, die einen bewegten Lebensweg nachzeichnet, vor allem was die Zeit seiner Zwangs-Emigration während der NS-Zeit betrifft, seine Arbeit in Brasilien und schließlich seine Rückkehr nach Deutschland. Jetzt liegt die erste Biografie über Eugen Szenkar vor.

In diesem brodelnden Kessel der k&k-Monarchie wird Eugen Szenkar am 9. April 1891 in einem Musikerhaushalt geboren. In seinem weiteren Leben wird er die Weimarer Republik, Stalins Sowjetunion, den Nationalsozialismus, Diktatur in Südamerika und die neu pulsierende Bundesrepublik in Deutschland hautnah erleben.

So schreibt Elisabeth Bauchhenß, die Szenkar persönlich schon in ihrem Elternhaus kennengelernt hat, in ihrem Vorwort. Bauchhenß, gebürtig aus Nürnberg, heute in Wien lebend, ist von Hause aus Biologin und Chemikerin. Nach Ende ihrer beruflichen Laufbahn begann sie systematisch, die Spuren von Szenkars Leben zusammenzutragen, teilweise auf mühsamen Umwegen, bedingt durch die kriegsbedingte Zerstörung von Unterlagen.

Zu Szenkars Lebens-Musik wurde die dritte Sinfonie von Gustav Mahler, die er – teils unter massiv erschwerten Bedingungen – überall aufführte, wo es nur ging. Diese Sinfonie schlägt den kulturellen Bogen von Szenkars ungarischer Heimat (wo Mahler einige Zeit als Königlicher Operndirektor tätig war) bis zu seiner Rückkehr ins zerstörte Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, wo Szenkar (der neben Bruno Walter zum Ehrenmitglied der Internationalen Mahler-Gesellschaft ernannt wurde) das Werk 1950 in Köln aufgenommen hat. Bereits in den späten 20er und frühen 30er Jahren hatte der Dirigent eine ihn prägende Zeit in Köln erlebt:

Er leitete unter anderem die europäische Erstaufführung von Prokofjews „Die Liebe zu den drei Orangen“, die erste Aufführung in deutscher Sprache von Debussys „Pelléas et Mélisande“ sowie die Uraufführung von Béla Bartóks Tanz-Pantomime „Der wunderbare Mandarin“ am 26. November 1926 – Sensation und Theaterskandal zugleich. Szenkar konnte trotzdem sein Renommee als herausragender Dirigent zunehmend festigen, auch weil er sich immer wieder erfolgreich für gängige Repertoire-Opern einsetzte.

Dass Eugen Szenkar heute kaum mehr präsent ist, hängt auch damit zusammen, dass etliche Tondokumente nicht mehr zugänglich sind – was weniger den Säuberungsaktionen durch die Nationalsozialisten als vielmehr den fragwürdigen Aufräum- und Entsorgungs-Aktionen einiger Rundfunkanstalten geschuldet ist.

Seine letzten Lebensjahre verbrachte Szenkar, nach Anstellungen in Mannheim und Düsseldorf, vor allem als Reisedirigent, bevor er kurz vor seinem 86. Geburtstag im April 1977 starb.

Elisabeth Bauchhenß hat eine akribisch gearbeitete Biografie vorgelegt, die den verschiedenen Facetten des Dirigenten auf ausgewogene Weise gerecht wird. Ihr Buch beleuchtet am Beispiel von Szenkars Lebensweg auch die allgemeine Thematik von Künstler-Biografien vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein bereicherndes Buch über einen Fast-Vergessenen.

Buchkritik vom 30.11.2016 aus der Sendung „SWR2 Cluster“

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Christoph Vratz