"Sie sieht nicht grad aus wie eine Turnerin und ist schon relativ alt." Claudia Seitz, die Mutter der kleinen Eli, ist überrascht, als sie mit diesen Worten im Turn-Leistungszentrum in Mannheim begrüßt wird. Ihre Tochter ist sechs und will unbedingt zum Turnen. Doch tatsächlich beginnen die meisten Kinder schon mit drei oder vier Jahren. "Die Begeisterung über mich war nicht so groß", erinnert Elisabeth Seitz.
Aber sie hat Glück. Weil in einer Leistungsgruppe zu wenig Mädchen sind, darf sie bleiben. Ihr Vorteil: "Ich hatte nie große Angst und habe immer alles probiert." Diese Furchtlosigkeit prägt ihren Lebensstil bis heute. Sportlich kommt Eli, wie sie alle nennen, durch diese Eigenschaft schnell voran.
Arbeitspensum: 66 Stunden pro Woche
Ihr Arbeitspensum ist enorm, ihre Wochen sind komplett durchgetaktet. 34 Stunden Schule und 32 Stunden Training. Seitz hat als Jugendliche eine 66-Stunden-Woche. Trotzdem empfindet sie keinen Stress. Sie liebt das Turnen. In der Schule schütteln viele Mitschüler den Kopf. "Viele dachten, ich sei verbissen, sähe nur das Turnen und hätte sonst nichts im Leben." Aber die junge Eli genießt einfach nur.
Ihr sportlicher Aufstieg ist nicht zu stoppen. Mit 16 gewinnt sie ihre ersten vier deutschen Meistertitel. Sie gilt als Deutschlands Vorzeigeturnerin. Druck macht ihr das nicht, Angst ist für "Frau Furchtlos" ein Fremdwort. Sie genießt auch die Auftritte in den Medien. "Irgendwie bin ich eine Rampensau", sagt sie lachend.
Mit knapp 17 startet sie erstmals bei einer Weltmeisterschaft. In Rotterdam schafft sie an ihrem Lieblingsgerät, dem Stufenbarren, den Sprung ins Finale der besten Acht. Die Halle ist ausverkauft, ihre Mutter extra angereist. Doch dann geht alles schief. Zwei Mal landet der Shooting star während der Übung auf dem Bauch. Anschließend spricht sie von einem "Horror, den man sich nicht wünscht." Sie wird von der Mama und von Bundestrainerin Ulla Koch getröstet. Labsal für die Seele. Rückschläge, das lernt sie schnell, gehören nun mal dazu. "Alle glaubten weiter an mich", erzählt sie.
"Ich war mental sehr weit unten"
Alle? Nein. Nach ihrer Rückkehr von den Olympischen Spielen 2012 in London erlebt sie im Mannheimer Leistungszentrum eine böse Überraschung. Ihre langjährige Trainerin Claudia Schunk, die sie zur Weltklasse-Turnerin geformt hatte, geht plötzlich auf Distanz. Schunk glaubt offensichtlich nicht mehr an eine Weiterentwicklung ihres Schützlings. "Du solltest nicht mehr weitermachen", hört Seitz ihre Trainerin sagen. "Es reicht." Die 18-Jährige ist völlig perplex. Sie versteht die Welt nicht mehr. "Ich habe selbst an mich geglaubt, aber in Mannheim haben sie dagegen angekämpft. Mir wurde verdeutlicht, dass sie sportlich nichts mehr von mir erwarten."
Seitz geht es mental immer schlechter. Sie erlebt zwei richtig schwere Jahre. 2014 erleidet sie zudem noch einen Ermüdungsbruch am linken Fuß. "Ich war zum ersten Mal mental sehr weit unten. Das hatte ich davor noch nie erlebt. Es war menschlich sehr enttäuschend," sagt sie in einem Porträt, das in dem Buch "Am Limit - Wie Sportstars Krisen meistern" (Springer Verlag, 2021) erschienen ist.
Der Wechsel nach Stuttgart
Seitz entscheidet sich, ihren eigenen Weg zu gehen. Ende 2014 wechselt sie nach Stuttgart an den Olympiastützpunkt. Hier glauben die Menschen an sie. Hier findet sie zu ihrer Fitness zurück und klettert aus ihrem mentalen Tal wieder heraus. Seitz blüht wieder auf. Sie zeigt allen, dass Qualität keine Frage des Alters ist. Sie holt einen Titel nach dem anderen. Besonders wertvoll ist ihre erste WM-Medaille. 2018 gewinnt sie in Doha Bronze am Stufenbarren - bei ihrer achten WM-Teilnahme. Und im August 2022 holt sie bei der Heim-EM in München überraschend Gold - ebenfalls an ihrem Lieblingsgerät, dem Stufenbarren.
Je älter sie wird, umso reifer, reflektierter und gelassener wird Seitz. Sie muss niemandem mehr etwas beweisen. Sie kann sich selbst Schwächen zugestehen und achtet mehr auf ihren Körper und ihre Gesundheit.
Bevor sie an diesem Wochenende in Düsseldorf ihren neunten Mehrkampf-Titel gewann, hatte sich die 29-Jährige die anstrengende Königsdisziplin an allen vier Geräten zwei Jahre lang nicht mehr angetan. Sie wollte mit ihren Kräften haushalten. Nach dem Titelgewinn sagte sie grinsend: "Jetzt merke ich schon, dass ich keine 15 mehr bin."
Karriere-Abschluss in Paris 2024
Sie weiß, sie befindet sich auf der Zielgeraden ihrer sportlichen Laufbahn. Anfang Oktober bei den Weltmeisterschaften will sie als Führungsfigur noch einmal eine wichtige Stütze im deutschen Team sein. In Antwerpen geht es um die Olympiatickets für Paris 2024. In der französischen Hauptstadt will die Sportsoldatin dann mit ihrer vierten Olympia-Teilnahme ihre beeindruckende und höchst erfolgreiche Karriere beenden.
Und danach? "Später lebe ich mit meinem Mann und meinen zwei oder drei Kindern in einem süßen Haus," verrät sie. "Dann arbeite ich als Lehrerin und bin auf irgendeine Art mit dem Turnen verbunden."
Klingt nach einem guten Plan. Und nach einem weniger steinigen Weg.