Die Saison 23/24 als traumhafte Reise
Es ist auch drei Monate später kein Fiebertraum, aus dem der gemeine VfB-Fan verschwitzt aufwacht und sich im grauen Bundesliga-Alltag der jüngeren Vergangenheit wiederfindet. Nein: Der VfB spielt Champions League. Zum ersten Mal seit 2010. Damals Barcelona, heute hoffen Team und Anhänger auf ähnliche Kaliber. Als Belohnung für die famose Spielzeit 2023/2024. Als sich Sebastian Hoeneß am 3. April 2023 im schwäbischen Trainerstuhl niederließ, wagte wohl nicht mal er selbst zu glauben, auf welche traumhafte Reise er sich mit seinem neuen Team begeben würde. 34 Bundesliga-Spiele mit Heimsiegen gegen Kaliber wie Bayern (3:1), Leipzig (5:2), Kantersiege gegen Bochum (5:0) und Freiburg (5:0), dazu gleich drei Triumphe über Borussia Dortmund. Hätte Leverkusen nicht eine Fabelsaison hingelegt; der VfB wäre ernsthafter Kandidat für die Meisterschaft gewesen. Dazu - da waren sich alle Experten einig - spielten die Schwaben mit Bayer den attraktivsten Fußball der Liga. Aktiv, offensiv, mutig. Dies schlug sich in außergewöhnlichen Statistiken nieder - etwa den 28 Toren von Stürmer Serhou Guirassy. Doch Erfolg weckt bekanntlich Begehrlichkeiten.
Der BVB fischt im schwäbischen Becken
Am meisten brachte das der BVB zum Ausdruck. Der Bundesliga-Fünfte der vergangenen Spielzeit sicherte sich sowohl die Dienste von Stürmer Serhou Guirassy und, zum Unmut vieler Stuttgarter Fans, Abwehrchef Waldemar Anton. Beide wurden bei Dortmund mit Verträgen bis 2028 ausgestattet, beide spülen frisches Geld in die schwäbische Vereinskasse: zusammen in etwa 40 Millionen Euro. Mit Hiroki Ito, der vom FC Bayern für eine Summe von 23,5 Millionen Euro nach München gelotst wurde, sind dem VfB drei echte Säulen weggebrochen. Auf der anderen Seite sind auch einige richtig gute Fußballer Stuttgart treu geblieben: Mit Chris Führich, Enzo Millot, Silas, Angelo Stiller, Atakan Karazor oder Maxi Mittelstädt bleibt eine starke Grundachse bestehen, die zudem mit der Rückehr des mit Kreuzbandriss ausgefallenen Dan-Axel Zagadou noch ergänzt wird. Die Kauf-Optionen für Jamie Leweling, Leonidas Stergiou und Anthony Rouault wurden schon im Laufe der vergangenen Saison gezogen und auf dem Transfermarkt wurde nachgelegt.
Neuzugänge vorne wie hinten
Der neueste und für viele Fans wichtigste "Neuzugang": Deniz Undav. Nach dem fast schon olympischen Tauziehen ist der "verlorene Sohn" endlich fix bei seinem Herzensverein aus Cannstatt gelandet. Die 28 Torbeteiligungen der vergangenen Saison, die wortgewaltigen Statements und den Status als menschlicher Klebstoff für die Mannschaft lässt sich der VfB offenbar 27 Millionen Euro kosten. Damit ist Undav der teuerste Transfer der VfB-Klubgeschichte. Undav soll mit Neuzugang Ermedin Demirovic für Torgefahr sorgen und den Wegang von Guirassy somit im Verbund kompensieren. Den früheren Freiburger, der sich zuletzt in Augsburg mit 15 Toren und zehn Vorlagen für höhere Aufgaben empfohlen hatte, hat Stuttgart für 21 Millionen Euro verpflichtet.
Neben Demirovic ist für die Defensive vor allem der auch international erfahrene und körperlich wuchtige Jeff Chabot hervorzuheben. Der zweikampfstarke Innenverteidiger kam aus Köln an den Neckar. Mit Spielern wie Nick Woltemade, Yannick Keitel, Justin Diehl oder Fabian Rieder geht Stuttgart zudem den Weg weiter, auf talentierte, entwicklungsfähige Spieler zu setzen.
Der VfB in der Königsklasse - Dreifachbelastung winkt
Die größte Frage der kommenden Saison wird sein: Besteht der VfB die Dreifachbelastung? Schafft er es, einen einstelligen Tabellenplatz oder sogar erneut das internationale Geschäft zu erreichen? Oder tappen die Stuttgarter in die "Champions-League-Falle"? Die oft Klubs zu spüren bekommen, die für die Qualifikation zur Königsklasse eine Überraschungssaison hingelegt und überperformt haben. Die Folge: oft steigende Ansprüche bei Spielern, Verantwortlichen und im Umfeld parallel zu den Ausgaben für (teure) Neueinkäufe. Die Abgänge scheint Stuttgart auf den ersten Blick solide kompensiert zu haben, der Kadermix scheint wohl dosiert, viele Spieler kennen sich und die von Trainer Hoeneß praktizierte Spielweise bereits aus dem vergangenen Jahr. Mit Hoeneß' Gabe, Spieler besser machen zu können, sollte der VfB auch in der kommenden Saison nichts mit dem Abstiegskampf zu tun haben.
Ausnahmetrainer mit Ausnahme-Punkteschnitt
Exakt 50 Spiele hat Sebastian Hoeneß als VfB-Trainer auf dem Buckel, sein Punkteschnitt beträgt 2,08. Jedes Wort unter "herausragend" wäre untertrieben. Der Fußball-Lehrer, den die TSG Hoffenheim knapp ein Jahr zuvor nicht mehr haben wollte, performte in Stuttgart von Beginn an. Quasi jeder Spieler erlebte einen Leistungssprung, "Hoeneß-Spieler" wie Angelo Stiller passten gleich perfekt ins Gefüge. Auch Spieler, die das Attribut "Chancentod" schon an den Stollen kleben hatten, schüttelten es im Laufe der Saison ab - siehe Jamie Leweling oder auch Silas, der gegen Ende der Saison auch als Joker glänzte. Hoeneß schafft es sowohl fachlich als auch menschlich zu überzeugen, er "catcht" die Spieler, wählt mit seinem Trainerteam offenbar die richtige Ansprache und findet mit seiner Art den passenden Zugang zur immer noch jungen Stuttgarter Mannschaft. Und eines war vergangene Saison ebenfalls zu sehen: der VfB präsentierte sich als eingeschworene Truppe.
Erwartungen an die kommende Spielzeit
Beim VfB ist man gut beraten, keine Luftschlösser zu bauen. Zu oft wurde dies in der Vergangenheit getan, zu bodenständig aber scheinen die aktuell Verantwortlichen, vor allem Sebastian Hoeneß und Sportvorstand Fabian Wohlgemuth. Sie haben in den vergangenen Monaten häufig genug bewiesen, dass sie mit Demut und Weitsicht gut fahren. Die schmerzhaften Abgänge wurden durch - teils auch zähe Verhandlungen wie beim Undav-Poker - aufgefangen. Ob sich das auf dem Platz widerspiegelt, werden die ersten Spiele zeigen. Vor allem, wenn der VfB Stuttgart auf Reise(n) geht. Aber das war, "nach all der Sch...", ja ohnehin der größte Wunsch aller beim VfB, und sollte eher beflügeln.