SWR Sport: Das Bundesligaspiel zwischen dem VfL Bochum und dem VfB Stuttgart musste nach der Pause weitere 42 Minuten unterbrochen werden. Die Partie stand wegen eines falsch aufgehängten Banners der VfB-Ultras kurz vor dem Abbruch. Was ist da schiefgelaufen am Samstag?
Harald Lange: Aus meiner Sicht war es vor allem ein Kommunikationsproblem. Es gab offensichtlich ein Ordnungswirrwarr. Am Ende hat man es aber mit dieser längeren Spielunterbrechung in der Halbzeitpause hinbekommen. Hätte man im Vorfeld sorgfältiger kommuniziert, hätte man das sicherlich besser managen können. Solche Themen gibt es ja an jedem Bundesligaspieltag. Nur wird das meist geräuschlos gelöst. Ich finde übrigens, dass die Vereinsführung des VfB Stuttgart in Bochum sehr besonnen reagiert hat.
Den Ultras sind ihre Banner heilig. Dennoch fragen sich neutrale Beobachter: Warum wurde das Banner aus Sicherheitsgründen nicht einfach abgehängt?
An dieser Stelle wird es sensibel. Von außen betrachtet wäre es natürlich die einfachste Möglichkeit gewesen, das Banner weg zu machen. Dann hätte man sofort weiterspielen können. Diejenigen aber, die das Banner aufgehängt haben, fühlen sich in ihrem Gerechtigkeitsempfinden beeinträchtigt, wenn sie etwas wegräumen müssen, was zu Spielbeginn genehmigt war. Ich denke, man muss das Thema Kommunikation ins Zentrum der Diskussionen rücken. Es geht um eine Balance zwischen der Gewährleistung der Sicherheit auf der einen Seite und den Rechten der Fans (auch dem Recht auf Protest) andererseits.
Hätte die Situation auch eskalieren können?
Vielleicht wäre es zunächst die leichtere Entscheidung gewesen, auf die Fanrechte zu pfeifen. Aber stellen Sie sich mal vor, die Polizei wäre einmarschiert und hätte das Banner abgemacht. Dann hätten wir die gleichen Szenen erlebt, wie beim Spiel Eintracht Frankfurt gegen den VfB Stuttgart vor einigen Wochen. Wir hätten wieder Schlägereien gehabt, und dann würden wir hier über ein anderes Thema sprechen.
Ging es in Bochum wirklich nur um das Banner - oder muss man den Vorfall auch in einem anderen Kontext sehen?
Diese Banner-Geschichte muss man tatsächlich in einem größeren Zusammenhang betrachten. Letztlich geht es um einen Machtkampf zwischen den Fangruppierungen, insbesondere den Ultras, und den Verbänden DFB und DFL sowie manchen Klubs, aber auch den Ordnungskräften der Polizei. Da hat sich in den vergangenen Monaten etwas hochgeschaukelt. Der Gipfel wurde erreicht durch den DFL-Beschluss zum Investor-Einstieg. Die Fans sind maßlos enttäuscht. Denn die Demutsbekundungen, die wir während der Pandemie von den DFL-Bossen gehört haben, haben sich in Luft und Rauch aufgelöst. Diese Sonntagsreden sind nichts mehr wert. Man macht so weiter wie vor der Pandemie. Man bläst die Bundesliga aus Sicht der Fans auf Pump weiter auf. Deshalb auch dieses Banner der VfB-Fans in den ersten zwölf Minuten. Vor diesem Hintergrund wird jeder Ordnungs-Eingriff von den Fans äußerst sensibel betrachtet. Deshalb sehe ich es eher als positiv, dass in der heiklen Gemengelage von Bochum eine gute Lösung gefunden wurde.
Die Vereine und die Mannschaften brauchen die Unterstützung der Fans. Gerade die Ultras sind treue Anhänger und sorgen für die Stimmung in den Stadien. Sind die Vereine deshalb zu nachgiebig gegenüber diesen Fangruppierungen? Haben sie womöglich Angst vor der Macht der Ultras?
Die Vereins-Verantwortlichen sind in einer schwierigen Situation. Zunächst einmal nehme ich einen Lernfortschritt in den vergangenen Monaten oder sogar Jahren wahr. Die Bosse vieler Klubs haben gemerkt, dass es ohne die Fans nicht geht. Auch bei den Kommerzialisierungsbestrebungen sind sie auf die Rückendeckung der Fans angewiesen. Allerdings können sie in ihren Stadien aus Imagegründen auch nur ein gewisses Maß an Protest tolerieren, denn sonst könnten sie gegenüber ihren Sponsoren oder gegenüber den Medien ins Abseits geraten.
Wir erleben also einen leichten Klimawandel in der Bundesliga. Fanmeinung und Fanrechte werden ernster genommen. Die Vereine gehen damit sehr sensibel um. Als Vereinsverantwortlicher überlegt man es sich zwei Mal, ehe man die eigenen Fans in eine bestimmte Ecke stellt. Im Zweifelsfall nimmt man die Pro-Fan-Position ein und stellt sich nicht gegen sie. Genauso hat es rund um den Vorfall in Bochum jetzt auch Alexander Wehrle, der Vorstandschef des VfB Stuttgart, getan. Dieses Vorgehen halte ich für klug. Allerdings muss man sich dann womöglich auch den Vorwurf gefallen lassen: Ihr kuscht vor den Fans und habt Angst vor ihrer Macht. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit, wie so oft, in der Mitte. Aber grundsätzlich ist es eine erfreuliche Entwicklung, dass man die Fans ernst nimmt.
Werden die Fans zu mächtig?
Hier müssen wir fragen: Wem gehört der Fußball? Was wäre der Fußball ohne Fans? Das wäre die andere Seite der Medaille. Wir haben während der Pandemie in der Phase der Geisterspiele erlebt, wie dröge der Fußball plötzlich ohne Fans und ohne Stimmung wurde.
Stimmt mein Eindruck, dass wir derzeit in den Stadien eine extreme Dünnhäutigkeit auf allen Seiten erleben?
Da gebe ich Ihnen Recht. Wir erleben einen Machtkampf. Der DFB verhängt zum Beispiel drakonische Strafen wegen Pyrotechnik, dieses ganze Thema ist völlig ungelöst. Wir sehen aber niemanden, der dies in vernünftige Bahnen lenken kann. Auch beim Investoren-Einstieg hat die DFL ein ganz schlechtes Spiel gespielt. Das hat mit Demokratie nichts zu tun. Kein Wunder, dass dieses Verhalten zu einer solchen Dünnhäutigkeit führt.
Schauen wir nach vorne. Was macht Ihnen bei diesem Thema Hoffnung für die Zukunft?
Hoffnung macht mir aktuell das besonnene Vorgehen der Polizei, Ordnungskräfte und Vereinsverantwortlichen rund um diesen Vorfall von Bochum. Die Stimmen in Richtung Deeskalation finden Gehör. Ich finde außerdem gut, dass wir diese Fanproteste haben. Fans sind Anwälte des wertebasierten Fußballs und Sports. Ich finde ihre Protestaktionen originell und fair.
Die einzige Sorge, die ich habe, ist, dass ein Fußballverantwortlicher des DFB oder der DFL wieder auf Law and Order setzt, wenn es eng wird. Ich hoffe, dass dies nicht passieren wird. Deshalb muss man weiter sehr sensibel vorgehen. Aber ich bin zuversichtlich, dass alle Beteiligten dies hinbekommen.