Epidemiologie

Wie umgehen mit Corona-Zahlen und -Statistiken?

Stand
Interview
Ralf Caspary im Gespräch mit Prof. Gérard Krause
Onlinefassung
Antonia Weise

Jeden Tag bekommen wir neue Zahlen zur Corona-Pandemie. Wie lassen sie sich einschätzen? Ein Interview mit Gérard Krause, Epidemiologe am Helmholtz-Institut für Infektionsforschung. 

Die Zahl der Neuinfektionen mit Covid-19 in Deutschland steigt wieder an. Wie ist diese Entwicklung einzuschätzen?

Es steigen nicht nur die Zahlen der Infektionen, sondern auch die Zahlen der Erkrankungen und der Anteil der älteren Bevölkerung innerhalb der Erkrankten. Das zeigt, dass wir in eine sehr ernste Lage reinkommen und da auch entsprechend reagieren müssen.

Ist das richtig, wenn wir uns in öffentlichen Diskussionen auf Infektionszahlen konzentrieren?

Die politische Diskussion und die öffentliche Diskussion in den Medien scheint sich tatsächlich ziemlich stark auf diese eine Zahl zu fokussieren. Das ist ein Problem, weil zur Einschätzung der Lage mehrere Faktoren berücksichtigt werden müssen. Zum Beispiel die Belegung in den Krankenhäusern, die Altersverteilung, die Anzahl der Erkrankten und nicht nur die Anzahl der positiv Getesteten. All diese Sachen müssen ins Verhältnis gebracht und gemeinsam interpretiert werden.

Ist es sinnvoll, auch die Zahl der Genesenen zu betrachten?

Es kommt drauf an, was man wissen will. Soll die Krankheitslast ermittelt werden, schaut man sich die insgesamt aufgetretene Zahl der Infektionen an und stellt sie in Beziehung mit der Zahl der Genesenen. Wenn man sich aber die Dynamik anschauen und abschätzen will, was auf uns zukommt, dann ist nicht die Gesamtzahl der Infektionen relevant, sondern die vor Kurzem dazugekommenen Infektionen. In diesem Kontext wäre die Zahl der Genesenen nicht interessant.

Die Infektionszahlen geben letztlich die Zahl der positiv auf Corona getesteten Personen an. Aber diese Zahl allein ist nicht wirklich aussagekräftig.
In ganz Deutschland steigen die Zahl der Neuinfektionen. Bei Zahlen und Statistiken kommt es immer daruaf an, was man ermitteln möchte.

Ist der Eindruck richtig, dass die Zahl der Todesfälle nicht reziprok zu den Neuinfektionen steigt?

Ja, man darf sich aber nicht in falscher Sicherheit wiegen, weil die Todesfälle immer mit einer gewissen Latenz auftreten. Also die Infektionen kommen zuerst und dann die Erkrankungen mit einem gewissen Verzug. Daraus folgt, dass die Krankenhausbetten voller werden, anschließend nimmt irgendwann die Belegung der Intensivstation zu und dann leider die Zahl der Verstorbenen. Alles findet mit einem zeitlichen Verzug statt. Deswegen sollte man vorsichtig sein, das zu früh in Relation zu setzen.

Immer wieder hört man: Das sind so viele Neuinfektionen, weil mehr getestet wird. Damit sollte man sich auch nicht beruhigen, oder?

Das ist korrekt, aber das kann man miteinander in Bezug setzen. Ein Grund weshalb ich immer sage, wir müssen neben der reinen Infektionszahl auch auf die Zahl der Erkrankten gucken. Diese Zahl ist weniger anfällig für die Testaktivität.

Wir sehen das, wenn wir die Kurven übereinanderlegen. Die Kurve der Gesamtinfektionen hat zwischendurch Ausreißer und wenn man die Kurve der Erkrankten drüberlegt, sind diese Ausreißer fast weg. Das deutet darauf hin, dass diese Ausreißer ein Ausdruck der sehr stark schwankenden Testaktivitäten sind, welche aufgrund von politischen Beschlüssen kurzfristig umgesetzt und dann wieder zurückgenommen worden sind.

Wir hatten zuerst 50 Infizierte pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche und manche sind mit den Maßnahmen auf 35 gesunken. Wie bewerten Sie diese Kategorien?

Ich habe bis heute keine wissenschaftliche Ableitung für diese Zahlen gefunden. Aber ab einer bestimmten Zahl ist das Gesundheitsamt nicht mehr in der Lage, die Infektionsketten nachzuvollziehen. Deshalb wird die Zahl festgelegt und ist relevant.

Das kann man so machen aber muss sich fragen, warum diese Zahl so festgeschrieben ist. Es ist kein Naturgesetz, dass ein Gesundheitsamt nur soundso viele Fälle pro Woche abarbeiten kann.

Gérard Krause - Epidemiologe am Helmholtz-Zentrum
Gérard Krause ist seit 2011 Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig.

Der andere Punkt ist, dass diese Zahl nicht notwendigerweise die Schwere der Epidemie ausdrückt, sondern sie drückt die Belastung der Gesundheitsämter aus. Das heißt, man kann daran arbeiten, ob die Gesundheitsämter ihre Belastung oder ihre Ressourcen auf bestimmte Arbeiten fokussieren sollten, wo der Effekt am größten ist.

Und der ist dann notwendigerweise nicht abhängig von der Infektionszahl, sondern mehr davon abhängig: Was macht man mit den Meldungen, die man bekommen hat, auf welche konzentriert man sich? Und welche Maßnahmen müssen gemacht werden?

Deswegen gibt es viele Stellschrauben, an denen die Gesundheitsämter und die Gesellschaft entlastet werden können. Es gibt auch Stellschrauben, an denen die Gesundheitsämter in die Lage versetzt werden können, mehr zu leisten.

Wie stehen Sie als Epidemiologe zu den verschiedenen Maßnahmen?

Wir brauchen dieses Bündel an unterschiedlichen Maßnahmen, weil soweit wir das einschätzen können, keine einzelne Maßnahme ausreichen wird, um die Situation in den Griff zu bekommen. Zum Teil wissen wir nicht, wie groß der Beitrag einer einzelnen Maßnahme dieses Bündels ist. Das ist leider so, weil es schwer zu messen ist, denn es gibt kaum die Möglichkeit, dies zweifelsfrei auseinander zu dividieren.

Maskenpflicht Corona
Die Maskenpflicht ist nur eine Maßnahme von vielen, um Infektionen zu reduzieren.


Abgesehen davon sind einzelne von diesen Maßnahmen in bestimmten Situationen sinnvoll, aber nicht flächendeckend. Zum Beispiel wenn in einer Stadt die Infektionszahlen in die Höhe getrieben werden, weil junge Menschen im alkoholisierten Zustand nicht mehr auf die Hygienerichtlinien geachtet haben.

Dann kann es möglicherweise helfen, durch Beschränkungen bezüglich der Öffnungszeiten von Diskotheken und Kneipen weiterzumachen.

Ich muss allerdings dazu sagen: Wir haben damit in Bezug auf Infektionsschutz keine wissenschaftliche Erfahrung. Das heißt aber nicht, dass man es nicht machen darf. Das heißt nur: Ich kann nicht sagen, wie gut sie wirken.

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Ralf Caspary im Gespräch mit Prof. Gérard Krause
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