Die Sinus-Studie 2024 zeigt, was die junge Generation bewegt und wohin sich unsere Gesellschaft entwickelt. Schülerinnen auf dem Schulweg

Sozialforschung

Sinus-Studie: So tickt die Jugend in Deutschland

Stand
Moderator/in
Christine Langer
Interview
Dr. Rusanna Gaber vom Sinus-Institut in Heidelberg
Onlinefassung
Leila Boucheligua

"Wie ticken Jugendliche?" Diese Frage untersucht das Sinus-Institut alle vier Jahre und befragt hierfür Jugendliche zu ihren Ansichten und Erfahrungen – die Themen reichen von Politik über Sport hin zu Spiritualität. Im Gespräch ist Dr. Rusanna Gaber vom Sinus-Institut zu den nun veröffentlichten Daten der 2023 durchgeführten Erhebung.

Alle vier Jahre befragt das Sinus-Institut in Heidelberg und Berlin Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren nach ihren Einstellungen, Ansichten und Erfahrungen, zum Beispiel im Hinblick auf Schule oder Sport.

Auch nach Themen wie soziale Ungleichheit, Diskriminierung, Geschlechtsidentität, mentale Gesundheit und zum Umgang mit Fake News befragt die Studie.

Jetzt ist das Ergebnis der aktuellen Sinus-Jugendstudie veröffentlicht worden. Über die inzwischen fünfte Studie als Bestandsaufnahme der soziokulturellen Verfassung der Jugend hat der SWR mit Dr. Rusanna Gaber vom Sinus-Institut in Heidelberg gesprochen.

Jugendliche wählen eher keine Regierungs- oder Großparteien

SWR: Bei der Europawahl am vergangenen Wochenende war eine der Überraschungen, dass viele junge Menschen unter 30, also auch Erstwählerinnen und Erstwähler, die AfD gewählt haben, während die Stimmen für die Grünen stark gesunken sind. Dabei galten die Grünen ja lange als Favorit. Kam das für Sie auch überraschend?

Dr. Gaber: Zum Teil, denn die jungen Wählerinnen und Wähler sind ja auch Teil der Gesellschaft und kriegen sehr wohl die Stimmung in ihr mit. Insofern war das nicht überraschend.

Dazu kommt als Grund möglicherweise, dass die Grünen jetzt Regierungspartei sind. Denn man kennt aus anderen Studien das Phänomen, dass junge Wählerinnen und Wähler dazu neigen, weniger gerne Regierungs- oder Großparteien zu wählen, sondern eher auf Oppositionsparteien oder kleinere Parteien setzen.

Wir haben unsere Studie ja vor einem Jahr erhoben, und die Einstellung von Jugendlichen sind sehr volatil. Daher muss man vorsichtig dabei sein, von unserer Studie auf die jetzigen Wahlergebnisse zu schließen.

Was wir in unsere Studie gemerkt haben, ist, dass die politische Bildung und Sozialisierung der Jugendlichen auch sehr stark im familiären oder direkten Umfeld stattfindet. Dazu informieren sich Jugendliche sehr stark zufällig in Social Media. Das heißt, je präsenter eine Partei dort ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie Jugendliche dort adressiert.

Für politische Themen herrscht eine hohe Sensibilität

SWR: Insgesamt kam aber in der Sinus-Studie auch heraus, dass die Jugendlichen weniger politisch interessiert und engagiert sind als in vorherigen Studien. Wie erklären Sie sich das?

Dr. Gaber: Sie sind nicht viel weniger interessiert und politisch engagiert. Vielleicht erweckt da eine falsche Schwerpunktsetzung manchmal diesen Eindruck. Wir haben es hier mit einer sehr jungen Zielgruppe zu tun, 14- bis 17-Jährige sind ja teilweise noch ältere Kinder.

Die Sinus-Studie 2024 zeigt, was die junge Generation bewegt und wohin sich unsere Gesellschaft entwickelt.
Die 14- bis 17-jährigen von heute sind politisch interessiert, fühlen sich jedoch nicht ausreichend politisch informiert.

Da findet die politische Sozialisation erst statt. Dann stellt sich auch die Frage, was "politisches Interesse" überhaupt bedeutet. Jugendliche sind sehr wohl sensibel für Themen, sowohl was die großen Krisen angeht, als auch Themen wie Ungerechtigkeiten und strukturelle Ungleichheiten in der Gesellschaft.

Sie nehmen die politische Themen auch wahr, wenn sie in den Medien ausgespielt werden. Das übersetzt sich allerdings nicht unbedingt in langfristiges Engagement, wie dass man regelmäßig zu Veranstaltungen geht, sondern wirkt sich eher punktuell so aus, dass sie sich informieren, mit anderen vertrauten Personen über diese Themen sprechen und hier und da vielleicht an einer Social Media Kampagne teilnehmen.

Mehr von den Jugendlichen zu erwarten, ist in dieser Altersgruppe von 14 bis 17 Jahren vielleicht auch zu viel verlangt.

Jugend wünscht sich mehr politische Bildung in Schulen

SWR: Aus der Studie ging auch hervor, dass die Jugendlichen ab 16 wählen zwar gut finden, sich aber nicht so gut informiert und dafür vorbereitet fühlen. Wird in Schulen zu wenig über die Funktionsweise von Politik und Demokratie vermittelt?

Dr. Gaber: Ja, in der Tat, das ist ein ganz wichtiger Befund der in Studie. Nach den Aussagen der Befragten gibt es in den Schulen noch zu wenig Raum für politische Praxis, um Demokratie zu erlernen. Das ist es in der Tat ein großes Manko.

Die Sinus-Studie 2024 zeigt, was die junge Generation bewegt und wohin sich unsere Gesellschaft entwickelt.
In der Schule wünschen sich die Jugendlichen von heute mehr politische Bildung und praktisch gelebte Demokratie.

Die Befragten sagen, dass sie das Gefühl haben, zu wenig über angewandte Demokratie zu lernen. Sie fühlen sich, wenn sie mit 16 das Wahlrecht haben, oft gar nicht so sicher, ob sie richtig einschätzen können, wo sie ihr Kreuzchen setzen sollen. Wir haben durchaus auch als spontane Äußerungen immer wieder den Wunsch nach mehr politischer Bildung in der Schule gehört.

In Zeiten von Krisen sind der Jugend konventionelle Lebensentwürfe wichtig

SWR: Die Sinus-Studie ist ja überschrieben mit der Frage "Wie ticken Jugendliche?". Also nun mal über Politik hinaus: Wie ticken Sie denn, was sind die Charakteristika der 14- bis 17-jährigen zur Zeit besonders?

Dr. Gaber: Auffällig ist, dass die Jugendlichen heutzutage einerseits sehr ernst sind. Sie sind besorgt angesichts der vielfältigen aktuellen Krisen. Deshalb spielen Werte wie Sicherheit, Halt und Geborgenheit für die heutigen Jugendlichen eine sehr große Rolle.

Auf der anderen Seite ist es erstaunlich, wenn sie auf den Alltag blicken und nach den Zukunftsvorstellungen der Jugendlichen fragen. Die meisten sind trotz dieser Krisen und auch trotz der teilweise nicht einfachen Lebensverhältnisse, in denen sie selbst leben, im Großen und Ganzen recht optimistisch, was ihre eigene persönliche Zukunft angeht.

Der zweite interessante Befund ist, dass die Jugendlichen immer noch so eine Normalbiografie als Leitmotiv betrachten. Ein Großteil von ihnen stellt sich vor oder träumt davon, eine glückliche feste Partnerschaft oder Ehe zu haben, Kinder, ein Eigenheim, Haustiere und einen guten Job, der genug Geld für ein sorgenfreies Leben gibt. Sie haben also relativ konventionelle Lebensziele und weniger Ziele wie auszubrechen, alles infrage zu stellen oder zu experimentieren.

Diskriminierung und der Klimawandel sind wichtige Themen für die Jugendlichen

SWR: Wie stehen die Kinder und Jugendlichen denn zum Thema Bildungsungerechtigkeit und Diskriminierung in diesem Kontext?

Dr. Gaber: Die Jugendlichen sind sehr sensibel für die Bildungsungleichheit in Deutschland, die auch aus Sicht der Jugendlichen vor allem darauf zurückzuführen ist, wie gebildet und finanziell gut die Herkunftsfamilie ausgestattet ist, ob man einen Migrationshintergrund hat oder nicht und in welchem Einzugsgebiet man wohnt.

Wir haben auch festgestellt, dass Diskriminierung im Schulalltag ein großes Thema ist. Drei von vier Jugendlichen berichten davon, dass sie entweder selbst Diskriminierung erlebt haben oder dass sie es in ihrem unmittelbaren Umfeld beobachtet haben.

Aus diesen Geschichten, die sie uns erzählt haben, spricht eine hohe Sensibilität und auch ein Unverständnis dafür, warum in der Schule nicht sensibler damit umgegangen wird.

Die Sinus-Studie 2024 zeigt, was die junge Generation bewegt und wohin sich unsere Gesellschaft entwickelt.
Zu den wichtigsten gesellschaftlichen Themen für Jugendliche zählen Diskriminierung und der Klimawandel.

SWR: Auch das Thema Klimawandel hat in den letzten Jahren unter jungen Menschen sehr viel Aufmerksamkeit gehabt, gerade durch die Fridays-for-Future-Bewegung. Nimmt das inzwischen wieder ab? So scheint es zumindest mit Blick auf die kürzliche Wahl, in der die Grünen deutlich weniger Stimmen von den Jungen bekommen haben als noch bei der letzten Europawahl.

Dr. Gaber: Wir hatten in unserer Studie den Eindruck, dass der Klimawandel das Wichtigste gesellschaftspolitische Thema ist, das die Jugendlichen umtreibt und was ihnen auch wirklich Angst macht, weil sie natürlich die schon die Folgen des Klimawandels erleben wie die extrem hohen Temperaturen im Sommer in bestimmten Regionen, die Trockenheit und die sich häufenden Naturkatastrophen, die ja mittlerweile auch in Deutschland spürbar sind.

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