Über 4.000 Covid-Patienten liegen derzeit (Stand: 28. Dezember 2021) auf den Intensivstationen in Deutschland. Zwar sank die coronabedingte Intensivbelegung in den vergangenen zwei Wochen erstmals seit Juli wieder merklich, doch Experten warnen vor deutlich steigenden Fallzahlen durch die kursierende Omikron-Variante.
Besonders hoch ist die coronabedingte Belastung der Intensivstationen momentan in Baden-Württemberg, Bayern und den neuen Bundesländern. Mehr als 20 Prozent der Intensivbetten werden dort von Covid-Patienten belegt – in Sachsen und Thüringen sind es sogar über 30 Prozent.
Mitte November 2021 landeten rund 0,8 Prozent der Covid-Patienten auf der Intensivstation. Diese Zahl ist dank der Impfung deutlich niedriger: In der ersten Welle waren es sechs Prozent, in der zweiten Welle zwei Prozent der Covid-Patienten, die intensivmedizinisch behandelt werden mussten.
Personalmangel führt zur Reduktion der Intensivbetten
Bis zu 30 Prozent der Intensivbetten können wegen Personalmangel nicht genutzt werden. Die Personalsituation ist schlechter als letztes Jahr wegen „Pandemiemüdigkeit“: Es gab viele Krankheitsausfälle, Arbeitsreduktion und Berufswechsel.
Nach Angaben des Mediziners Stefan Kluge seien 80 bis 90 Prozent der Covid-Patienten auf der Intensivstation ungeimpft (Stand: November 2021), es gebe aber eine steigende Tendenz zu Impfdurchbrüchen. Die Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen sind zwischen 20 und 80 Jahre alt, haben aber in der Regel Risikofaktoren wie Krebs, Herz-Kreislauf, Diabetes.
Aufschiebbare Operationen werden verschoben
Wegen der angespannten Lage in den Krankenhäusern werden nach Angaben von Michael Hallek, Direktor der Klinik I für Innere Medizin, Uniklinik Köln, bereits jetzt aufschiebbare Operationen verschoben. Es gebe bereits eine "weiche Triage", dass zum ein Beispiel Krankenwagen erst mal eine Stunde lang mit einem Herzinfarktpatienten herumfährt, weil nirgendwo ein Bett frei ist.
Es gibt, so Kluge, verschiedene Möglichkeiten mit dieser Situation umzugehen: 1. Operationen verschieben, 2. Intensivbetten, die da sind müssen betrieben werden, 3. Leistung in anderen Stationen einschränken und von dort Personal abziehen, 4. Patienten in andere Bundesländer verlegen.
Schon jetzt gebe es, so Kluge, eine latente Triage: Wenn Schlaganfallpatienten nicht aufgenommen werden können, Krebspatienten nicht operiert werden können. Der Impfstatus sei allerdings kein Kriterium für Triage: „Wir behandeln alle Patienten gleich.“
Triage stammt aus der Katastrophenmedizin
Der Begriff Triage kommt eigentlich aus dem Militär oder der Katastrophenmedizin. Beispiel: Ein Busunfall mit 20 Verletzten, zwei Helfer teilen die Patienten dann in drei Kategorien auf. Daher kommt das Wort Triage: leicht verletzt, schwer verletzt, lebensgefährlich schwer verletzt, mit nur geringen Überlebenschancen. Manchmal werden die Patienten auch mit Karten oder Farben gekennzeichnet.
Ethisch schwierige Entscheidung
Die Leichtverletzten können warten, und es hat auch keinen Sinn, jemanden mit Kreislaufstillstand wiederzubeleben, dafür aber die Mittelschwerverletzten verbluten zu lassen. Sprich, es werden erstmal die behandelt, bei denen die Behandlung vermutlich am meisten bringt und sicher Leben rettet.
Also die Frau mit der offenen Bauchverletzung vor dem Mann mit dem gebrochenen Arm. Bei einem Massenanfall von Patienten wird so eine Ersteinschätzung manchmal auch in Notaufnahmen angewendet, auch auf Intensivstationen.
Triage – eine schwierige Situation für ärztliches Personal
Was einfach klingt, ist ethisch aber sehr, sehr schwierig. Denn wer sich für jemanden entscheidet, entscheidet sich gleichzeitig auch gegen jemand anderen. Der frühere Notarzt und Internist Jens Matthies sagt, konkret heißt das:
Eine Situation, in die kein Arzt kommen will. Auch Bayerns Ministerpräsident Söder hat das Thema ins Gespräch gebracht:
Verlegung von Patienten ist keine Triage
Aber das ist streng genommen eigentlich keine Triage. In Deutschland war und ist es schon immer so, dass besonders schwere Fälle aus kleineren Krankenhäusern in besser ausgerüstete Kliniken verlegt werden.
Dass jetzt aber schwer erkrankte Covid-Patienten deutschlandweit durch die Bundeswehr verlegt werden müssen, um einer Triage-Situation zu entgehen, das sei ein absoluter Ausnahmezustand, so der Bundeswehr-Sprecher Matthias Frank. Von Ende November bis zum 8. Dezember 2021 wurden laut Robert Koch-Institut mindestens 93 Covid-Intensivpatienten über die Bundeslandgrenzen hinaus verlegt, viele davon aus Sachsen und Bayern.
Eine bundesweite Verlegung ist nur möglich, solange die die Intensivstationen nicht deutschlandweit ausgelastet sind. Wenn es aber keine Entlastungsmöglichkeit mehr gibt, droht die Triage, befürchtet auch die sächsische Sozialministerin Petra Köpping:
Alter und soziale Kriterien dürfen bei Entscheidungen keine Rolle spielen
Denn in diese Lage will natürlich kein Arzt geraten, damit er eben nicht dazu gezwungen wird, Prioritäten zu setzen, auch wenn ein Triage-System nur im absoluten Notfall zur Anwendung kommt. Im Frühjahr 2020 gab es beispielsweise, die später dementierte Meldung, in Straßburger Kliniken würden über 80-Jährige nicht mehr beatmet.
In Italien haben Intensivmediziner damals vorgeschlagen, erstmal diejenigen zu retten, die noch am meisten Lebensjahre vor sich haben. Bei uns in Deutschland dürfen Alter und auch soziale Kriterien laut dem Gleichheitsgrundsatz in der Verfassung bei derartigen Bewertungen keine Rolle spielen. Der Bonner Ethik-Professor Bernd Heinrichs:
Weil es nicht um Lebensjahre geht und die Beurteilung, was denn lebenswert ist, sondern um Menschen. Patientenschützer wie die evangelische Behindertenhilfe haben sicher auch in Erinnerung an Verbrechen aus der Nazizeit Gesetze gefordert, die die Auswahl von Beatmungspatienten festlegen.
Klinische Erfolgsaussicht als wesentliches Kriterium
In den klinisch-ethischen Empfehlungen von sieben deutschen Berufsverbänden der Intensiv- und Rettungsmedizin, die deutsche Ärzte anwenden, zählt bei einer Priorisierung alleine das "Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht", also die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit der Patienten. Zudem müssen mindestens drei Ärzte an solchen Entscheidungen beteiligt sein.
Bundesverfassungsgericht entscheidet: Menschen mit Behinderung müssen geschützt werden
Menschen mit Behinderung haben bei einer Corona-Infektion möglicherweise schlechtere Genesungsaussichten als ein Infizierter ohne Vorerkrankungen. Im Falle einer Triage könnten sie deshalb mit geringerer Priorität behandelt werden. Das widerspricht dem Grundgesetz:
Doch der Bundestag hat bisher keine Maßnahmen ergriffen, um Menschen mit Behinderung vor einer Benachteiligung bei einer pandemiebedingten Triage zu schützen. Damit verletzt der Gesetzgeber seinen Schutzauftrag, entschied das Bundesverfassungsgericht am 28. Dezember 2021 in Karlsruhe. Grund dafür war eine bereits Mitte 2020 eingegangene Verfassungsbeschwerde von neun Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen. Der Gesetzgeber ist somit gezwungen, unverzüglich Vorkehrungen zu treffen, damit niemand wegen einer Behinderung bei der Priorisierung überlebenswichtiger Behandlungsmaßnahmen benachteiligt wird.
Mediziner müssen sich auf den Ernstfall vorbereiten
Noch ist es nicht so weit, dass Ärztinnen und Ärzte darüber entscheiden müssen, welche Patienten sie priorisiert behandeln. Aber sie müssen sich auf den Ernstfall vorbereiten. Weltärztepräsident Montgomery beklagt, Mediziner würden mit dieser Entscheidung alleine gelassen. Auch die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) fordert klare rechtlich festgelegte Entscheidungskriterien für die Ärzteschaft im Fall einer Triage.
Prof. Dr. Reinhard Busse, Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen, TU Berlin, und Mitglied des Fachbeirats des Bundesgesundheitsministeriums gibt allerdings zu Bedenken, dass in Deutschland teilweise Patienten auf der Intensivstation liegen würden, die in anderen Ländern gar nicht dort landen würden (z.B. wenn sie keine große Überlebenschance haben). Eine solche Überversorgung mit Intensivbehandlungen müsse nach der Pandemie in den Blick genommen werden.