In Deutschland ist die Corona-Pandemie bislang weitgehend unter Kontrolle. Deshalb wurde nie ausdiskutiert, nach welchen Leitlinien im Ernstfall über Leben und Tod entschieden wird.
Mit Blick auf die dramatische Lage im März in Ländern wie Italien und Spanien haben sich auch deutsche Ärztinnen und Ärzte gefragt: Was, wenn ich über Leben und Tod entscheiden muss? Wie soll ich das tun, gibt es Entscheidungshilfen?
Die Empfehlungen der DIVI besagen: Alle Patienten, die eine intensivmedizinische Behandlung dringend benötigen, sollen danach bewertet werden, wie gut ihre Aussichten auf Genesung sind.
Diese Überlebenschancen werden von der DIVI wiederum anhand von drei Fragen festgemacht:
Wie schwer ist die Erkrankung?
Welche relevanten Vorerkrankungen liegen vor?
Wie ist der allgemeine Gesundheitszustand – also wie gebrechlich ist der Patient?
Diese letzte Frage soll anhand der sogenannten Clinical Frailty Scale – einer Gebrechlichkeitsskala für Menschen ab 65 Jahren – bewertet werden.
Leitlinien stoßen auf Kritik
Nancy Poser ist Amtsrichterin in Trier. Sie leidet an Muskelschwund und ist auf einen Rollstuhl angewiesen. Laut der 40-Jährigen geht aus den DIVI-Richtlinien nicht deutlich genug hervor, dass die Gebrechlichkeitsskala nur für ältere Menschen anzuwenden ist – nicht aber für Menschen, die wegen einer Behinderung auf Hilfe angewiesen sind.
Aber nicht nur deshalb sieht Poser die Leitlinien kritisch: Die Wahrscheinlichkeit für einen Behandlungserfolg sei nicht sicher vorhersehbar und die Auswahl danach nicht verfassungskonform. Man dürfe Menschenleben nicht gegeneinander abwägen.
Alternative Losentscheid?
Aus der Sicht von Nancy Poser müsse jeder Mensch die gleiche Chance haben, auf der Intensivstation behandelt zu werden. Ihre Maxime lautet deshalb: „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.“ Also der Patient, der zuerst eingeliefert wird, wird auch behandelt. Für Poser wäre in diesem Kontext auch ein Losentscheid ein faires Auswahlkriterium. Georg Marckmann von der DIVI sieht das kritisch.
Der Deutsche Ethikrat sieht das ähnlich. Er verweist neben grundlegenden verfassungsrechtlichen Vorgaben auch auf Leitlinien der Fachgesellschaften – wie also der DIVI.
Soll der Bundestag eingreifen?
Gleichzeitig schreibt der Ethikrat aber: Wer sich an die Empfehlungen hält, könne zwar im Fall einer möglichen strafrechtlichen Aufarbeitung mit Nachsicht rechnen, aber das aktive Beenden einer laufenden, weiterhin medizinisch notwendigen Behandlung sei trotzdem faktisch nicht rechtens.
Wäre es dann nicht die Aufgabe des Gesetzgebers, hier einzuschreiten? Steffen Augsberg vom Deutschen Ethikrat:
Der Gesetzgeber dürfe in diesem Sinne keine konkreten Richtlinien zur Triage festlegen. Die Richterin Nancy Poser sieht das anders.
Auch die DIVI kritisiert Schweigen der Politik
Interessant ist: Georg Marckmann, der an den DIVI-Leitlinien mitgearbeitet hat, sieht das im Prinzip genauso.
Rechtsunsicherheit bleibt bestehen
Laut Steffen Augsberg vom Deutschen Ethikrat sei diese Rechtsunsicherheit ein Stück weit gewollt:
Die Diskussion über die Triage ist komplex, emotional aufgeladen und sie wird kontrovers geführt. Auch im Bundestag gehen die Meinungen auseinander:
Die Gesundheits- und Justizminister Jens Spahn und Christine Lambrecht sehen keine Notwendigkeit für eine gesetzliche Regelung. Die Grünen-Fraktion fordert dagegen eine politische Debatte. Die FDP will auf Fachgesellschaften wie die DIVI und die Ärzteschaft vertrauen. Der Gesetzgeber solle klarstellen, dass Ärzte und Ärztinnen wegen möglicher Entscheidungen keine strafrechtlichen Konsequenzen drohen. Die SPD möchte sich momentan nicht äußern. Union, AfD und Linke haben auf unsere Anfrage nicht geantwortet.