Man denkt sofort an Hanno Berger aus dem Cum-Ex-Skandal oder an den Wirecard Chief Operating Officer Jan Marsalek, beide abgetaucht. Wirecard war das FinTech-Unternehmen made in Germany. Der Zahlungsdienstleister verdiente sein Geld anfangs in der Glücksspiel- und Pornobranche, stieg in den DAX auf, galt als Vorzeigeunternehmen und wurde stets begleitet von Betrugsvorwürfen, die in Deutschland niemand hören wollte. 2020 steht das Unternehmen vor Gericht wegen Unterschlagung von fast 2 Milliarden Euro.
Täter: farblos, aber ehrgeizig und in Entscheidungspositionen
Viele Menschen fragen sich: Wer sind diese Schurken? Erfolgsorientierte, egozentrische Angeber, die sich bewusst über Regeln und Gesetze hinwegsetzen, um eigene materielle Ziele wie einen hedonistischen und luxuriösen Lebensstil zu verwirklichen? Alles Narzissten?
Als eher farblos beschreibt Britta Bannenberg, Professorin für Kriminologie an der Universität Gießen, den durchschnittlichen Täter im Bereich Wirtschaftskriminalität: ehrgeizige, berufsorientierte Männer zwischen 30 und 50 in Entscheidungspositionen, die mit grundsätzlich legalen Wertvorstellungen in unauffälligen Sozialstrukturen leben.
Zahl der Wirtschaftsdelikte sinkt – Dunkelziffer ist allerdings hoch
Sie gelten als korrekt, eher penibel, und kompetent. Wenn Bannenberg sich Beschreibungen von Täterprofilen anschaut, dann ist es gerade der Gewissenhafte und Sachkompetente, der sich am besten im Metier auskennt. Das sprichwörtliche schwarze Schaf gebe es nicht, so die Juristin.
Wenn es um Straftaten im Marktgeschehen gehe, zeichne sich ein Bild ab, das eher in komplementären Farben gezeichnet ist – wie auf einen Negativfilm. Das weiße Schaf, den unkorrumpierbaren Mitarbeiter oder Manager, müsse man also in der Herde schwarzer Schafe suchen, nicht umgekehrt, so Professorin Bannenberg. Allein im Abgasskandal in der Automobilindustrie gibt es keine einzige deutsche Automarke, die nicht wegen manipulierter Abgaswerte Bußgelder zahlen musste.
Laut BKA-Daten sind Straftaten im Kontext wirtschaftlicher Betätigung in den letzten zehn Jahren um ein Drittel gesunken. Nur etwa ein bis zwei Prozent aller polizeilich erfassten Delikte entfallen auf Wirtschaftsstraftaten. Auffällig ist jedoch, dass diese Straftaten 50 Prozent des Schadens ausmachen, der insgesamt durch Straftaten aller Art in Deutschland entsteht.
Ermittlungsbehörden haben nur geringe Ressourcen
Das Bundeskriminalamt sagt allerdings auch, dass die vorliegenden Zahlen die Wirklichkeit gar nicht abbilden können. Viele Fälle würden direkt von Finanzbehörden und Staatsanwaltschaften übernommen, zudem gäbe es wenige Anzeigen, das Dunkelfeld sei folglich entsprechend groß. Auf den ersten Blick sind auch die Daten der Rechtspflege unverdächtig: Der Anteil der eingeleiteten Ermittlungsverfahren wegen Wirtsschafts- und Steuerstrafsachen sowie Geldwäsche-Delikten ist 2019 von sieben Prozent im Vorjahr auf unter drei Prozent gesunken, so das Statistische Bundesamt.
Für die Kriminologin und Professorin Bannenberg sind das jedoch Alarmsignale. Die Zahlen selbst würden wenig über das Kriminalitätsaufkommen, umso mehr aber über die geringen Ressourcen der Ermittlungsbehörden sagen. Potentielle Täter können sich in dieser Lage sicher fühlen, so Bannenberg.
Bei der Suche nach den Ursachen für diese Situation geht Dr. Sabine Nuss tiefergehenden Systemfragen nach. Die Publizistin leitet den Karl-Dietz-Verlag, der unter anderem die Marx-Engels-Werke herausgibt. Sie gehört zu den kritischsten Analystinnen der kapitalistischen Gegenwart. In ihren Augen liegt die Ursache vieler Wirtschaftsskandale, aber auch der Finanzkrise nicht bloß im kriminellen Handeln irgendwelcher Banker, Entscheider oder Manager, sondern im gesellschaftlichen Normalzustand.
Obdachlosigkeit vs. Profite: Finanzkrise 2007 wirkt noch immer nach
Bis heute sind beispielsweise die Folgen der Finanzkrise von 2007 bis 2010 für viele spürbar. Als der Immobilienmarkt in den USA zusammenbrach, sank der Wert vieler Häuser plötzlich unter die ausstehende Kreditsumme. Gleichzeitig schossen die Raten in die Höhe. Geldhäuser, auch die Deutsche Bank, pfändete Häuser, ließ sie zwangsräumen und versteigern. Davon profitierten Investmentfonds, sie kauften die unterbewerteten Häuser und diktieren heute Preise, die immer noch Menschen in die Obdachlosigkeit zwingen.
Viele, die in der kalifornischen Metropole Los Angeles bis heute auf die Straße gehen und protestieren, sind Opfer der Marktrationalität geblieben. Also jenes Grundgedankens der Ökonomie, Gewinne zu maximieren, ohne soziale Verantwortung zu übernehmen. Darunter leidet – als Beispiel – auch die Rentnerin in Berlin, die sich ihre Miete nicht mehr leisten kann, weil Fonds und Immobilienhändler in den Wohnungsmarkt drücken, hier Rendite machen wollen und die Mieten in die Höhe treiben.
Der Begriff der „moralischen Ökonomie“ wurde durch den britischen Historiker und Marxist Edward P. Thompson geprägt und ist mittlerweile auch in der Wirtschaftsethik anzutreffen. Die moralische Ökonomie legt fest, was als fair angesehen werden kann, doch sie wandelt sich mit der Zeit und ihren Gegebenheiten.
Wirtschaft gilt vielen als Ort ohne Moral
Thompson untersuchte die sozialen und ökonomischen Umbrüche von der traditionellen zur modernen Industrie- und Marktgesellschaft. Weil damals die Getreidepreise zunehmend durch den Markt bestimmt wurden und hohen Schwankungen unterworfen waren, kam es in Nordwesteuropa bis ins 19. Jahrhundert hinein immer wieder zu sogenannten Hungerrevolten. Wenn die Getreidepreise drastisch anstiegen, reagierte die Bevölkerung mit Plünderungen.
Die gewaltsamen Ausschreitungen waren für den Historiker Thompson nicht etwa willkürlich und chaotisch, sondern folgten einer gemeinsamen „moralischen Ökonomie“: Grundnahrungsmittel dem Auf und Ab von Angebot und Nachfrage zu unterwerfen, wurde nämlich als Angriff auf das tägliche Leben der Bürgerinnen und Bürger wahrgenommen.
Der gesellschaftliche Zustand heute: Viele halten die Wirtschaft für einen Ort ohne Moral, einen Ort, an dem Gier, Rücksichtslosigkeit und kriminelle Energie den Ton angeben, sagt Prof. Susanne Karstedt. Zusammen mit ihrem britischen Kollegen Stephan Farrell hat Karstedt Anfang 2020 eine umfassende Monografie vorgelegt. Der empirische Befund: Lug und Betrug, die Suche nach dem eigenen Vorteil am Rande der Legalität, sind nicht nur den "weißen Kragen" vorbehalten.
"Beutegesellschaft": Mittelschicht rechtfertigt eigene Betrügereien
Am Ende der Ära des Wohlfahrtsstaats, wenn die Ungleichheit wächst und die Mittelschicht erodiert, rechtfertige die sonst angepasste Mittelschicht Betrügereien und Unterschlagung als eine Art subversiven Akt. Die “moralische Ökonomie” der Gegenwart führe letztlich in die “Beutegesellschaft”, so Karstedt. Ihre Mitglieder fühlen sich von Konzernen über den Tisch gezogen, vom Staat im Stich gelassen und sie nehmen, was sie kriegen können.
Keine Lösung in Sicht
Doch welche Werte und Regeln können heute durchgesetzt werden? Sollen die großen Fische aus dem Rennen genommen werden? Die Superreichen, bisher geschätzte und anerkannte Mitglieder dieser Gesellschaft, deren Geld der Treibstoff der betrügerischen CumEx-Maschinerie war? Werden die Seilschaften zwischen Politik und Wirtschaft, wie sie sich im Fall CumEx und Wirecard wieder zeigen, endlich gekappt? Bisher ist das lediglich ein frommer Wunsch.