Unter dem Inlandeis im Nordwesten Grönlands verbirgt sich ein Umweltskandal aus der Ära des Kalten Krieges, der für politische Spannungen zwischen Dänemark, Grönland und den USA sorgt. Auf dänischem Territorium hatte die US-Armee Ende der Fünfzigerjahre mit großem Aufwand eine Basis in das "ewige Eis" gefräst. Sie war als Forschungsstation deklariert. Doch im Geheimen hatten die Vereinigten Staaten weit ernstere Pläne, über die sie die Regierung in Kopenhagen im Unklaren lassen wollten.
Der "Mann ohne Schatten"
Die Geheimniskrämerei der US-Amerikaner gefiel den Dänen nicht, und sie schickten drei Jahre lang ihren eigenen Mann in die Arktis – Erik Jørgen-Jensen. Offiziell war er eine Art Kontaktmann für die US-Amerikaner. Inoffiziell spionierte er deren Aktivitäten für den dänischen Militärgeheimdienst aus. Die Amerikaner akzeptierten ihn notgedrungen – doch sie müssen etwas geahnt haben, denn sie nannten Erik scherzhaft den "Mann ohne Schatten".
Mutige "Ein-Mann-Spionage"
Am Dienstag, den 22. März 1960, kam Erik Jørgen-Jensen auf der Thule Air Base an – der nördlichsten Lufwaffenbasis der Vereinigten Staaten, 1.200 Kilometer nördlich des Polarkreises, an der vergletscherten Nordwestküste Grönlands. Zunächst verbrachte Erik seine Zeit damit, die US-Basen zu erkunden: die Hauptbasis in Thule, und östlich und südlich davon eine Reihe weiterer Basen, verteilt über einen Radius von mehreren hundert Kilometern.
Eine Stadt unterm Eis
Sein Hauptaugenmerk lag auf "Camp Century" – einer voll funktionstüchtigen Basis mit Kino, Kapelle, Fitness-Studio, Bibliothek und Wohnmöglichkeiten für 200 Soldaten, von einem mobilen Atomreaktor üppig mit Strom versorgt. Aus der Luft war die Anlage kaum auszumachen, um sie vor den Argusaugen und den Waffen fremder Mächte zu schützen.
Atomwaffen in der Arktis
Dänemarks Ministerpräsident Hans Christian Hansen hatte den Vereinigten Staaten bereits 1957 gestattet, Atomwaffen auf der Thule Air Base zu stationieren. Aber das wussten damals nur wenige in der dänischen Regierung – und der Öffentlichkeit in Dänemark und Grönland blieb dieses politische Zugeständnis vollkommen verborgen, denn Atomrüstung war ein heftig umstrittenes Thema.
Vier Jahrzehnte Geheimhaltung
Was die US-Amerikaner in Camp Century tatsächlich vorhatten, wurde der Öffentlichkeit in Dänemark und Grönland erst vier Jahrzehnte nach Eriks tapferer Ein-Mann-Spionage bekannt. 1997 veröffentlichte das Dänische Institut für Außenpolitik auf Ersuchen des Parlamentes in Kopenhagen eine Dokumentation über US-Langstreckenbomber, die während des Kalten Krieges Grönland überflogen hatten – mit scharfen Atomwaffen an Bord. Am Tag nach der Veröffentlichung waren in den Zeitungen Einzelheiten der Geheimpläne vom Ende der Fünfzigerjahre zu lesen. Erik Jørgen-Jensen hatte damals einen Teil der Tunnel erkundet – aber die großen Zusammenhänge waren auch ihm verborgen geblieben.
"Project Iceworm"
Camp Century hätte das Herzstück eines gigantischen Abschusssystems für Atomraketen werden sollen. Ein Labyrinth von Tunneln unter dem Eis, Gesamtlänge über 4.000 Kilometer, in dem 600 Interkontinentalraketen jederzeit bewegt und abgefeuert werden konnten, gegen den Feind im Osten – die Sowjetunion. Die US-Amerikaner tauften dieses aberwitzige Vorhaben "Project Iceworm". Was die Amerikaner bei der Planung von "Iceworm" nicht in Betracht gezogen hatten: Das Eis bewegte sich ständig und machte es so unmöglich, dauerhafte Tunnel im Untergrund zu bauen und Gleisstränge zu verlegen.
Auf Eis gelegt
1967, nur vier Jahre nachdem Eriks geheime Mission zu Ende ging, mussten sich die Vereinigten Staaten von Amerika eingestehen, dass Mutter Natur ihnen in der Arktis haushoch überlegen war. Die unnachgiebige Kraft des Eises machte es ihnen unmöglich, ihr Prestige-Projekt zu verwirklichen. Sie beendeten das wahnwitzige Vorhaben, zogen ab – und ließen die gesamte Infrastruktur unter dem Eis zurück: 21 Tunnel mit einer Gesamtlänge von drei Kilometern und alle Gebäude. Den mobilen Atomreaktor montierten sie ab, sein schwach radioaktives Kühlwasser ließen sie in gewaltigen gefrorenen Säulen zurück.
Gefährlicher Atommüll
Bis heute liegen die Hinterlassenschaften Camp Centurys bis an die 100 Meter tief unter dem grönländischen Eis. Wissenschaftler vermuten, dass die Überreste der Gebäude und der biologische, chemische und radioaktive Abfall von Camp Century mit der Klimazerstörung in 80 bis 100 Jahren freitauen werden.
Plötzlich ist Camp Century wieder ein heißes Thema – in Dänemark und Grönland. Noch immer ist unklar, was genau unter dem Eis verborgen liegt, aber dazu könnten an die zehntausend Tonnen gewöhnlicher Müll und Schrott, 200.000 Liter Dieselöl und krebserregende Chlorverbindungen, gefrorenes Abwasser und gefrorenes, schwach radioaktives Kühlwasser aus dem Reaktor zählen.
Eine Sendung des dänischen Rundfunks, in der Erik Jørgen-Jensen sein sechs Jahrzehnte währendes Schweigen brach, führte zu politischen Anhörungen in Kopenhagen und einer ersten Expedition nach Grönland.
SWR 2019