In Belgien, in den Niederlanden oder in Luxemburg können unheilbar Kranke um aktive Sterbehilfe bitten. Und Ärzte dürfen ein tödliches Mittel verabreichen – sogar an Patienten mit psychischen Leiden wie Depressionen, Schizophrenie, posttraumatischen Belastungsstörungen oder Demenz.
Diese aktive Sterbehilfe ist zwar in Deutschland verboten, die Hilfe zum Suizid ist aber inzwischen legal: Ärztinnen dürfen Patienten ein tödliches Medikament beschaffen. Aber gilt das auch für psychisch kranke Menschen? Was in Deutschland für viele noch undenkbar ist, ist in Belgien und den Niederlanden mittlerweile fast schon Alltag: Seit die Gesetze in Kraft getreten sind, ist die Zahl der Sterbehilfe-Fälle dort in die Höhe geschnellt. Doch die Kritik daran bleibt groß.
Kriterien für einen Antrag auf Sterbehilfe
Kriterien, die für einen Antrag auf Sterbehilfe erfüllt sein müssen, sind die Zurechnungsfähigkeit und die freie Entscheidung des Patienten, außerdem muss die Anfrage mehrmals geäußert werden. Ob all diese Kriterien tatsächlich erfüllt sind, überprüfen zwei Mediziner.
Bei einer psychischen Erkrankung muss zusätzlich eine Psychiaterin oder ein Experte für die Erkrankung hinzugezogen werden. Sie müssen unter anderem klären, wie sehr eine Patientin tatsächlich leidet. Das unerträgliche Leiden kann körperlich, psychisch oder existenziell sein. Und es muss durch eine unheilbare Krankheit verursacht sein, die ohne Aussicht auf Besserung besteht.
Kritiker*innen befürchten Schneeballeffekt bei zunehmenden Anträgen
Seit das Gesetz in Belgien in Kraft ist, ist die Zahl der Patienten, die Sterbehilfe in Anspruch nehmen, konstant gestiegen. 2003 haben Ärzte 260 Patienten ein tödliches Mittel verabreicht; 2019 waren es mehr als zehnmal so viele Patienten, nämlich über 2.600. Die Zahl der getöteten psychisch kranken Patienten lag zuletzt bei knapp 50 pro Jahr. Hinzu kommen hunderte Betroffene, die körperliche und geistige Leiden als Grund für ihren Wunsch nach aktiver Sterbehilfe angeben.
Die Zahlen sorgen weltweit für Entsetzen bei Medizinerinnen und Ethikern. Und auch in Belgien nimmt die Diskussion um das Gesetz Fahrt auf. Während Befürworter die Selbstbestimmung der Betroffenen in den Vordergrund stellen, befürchten Kritikerinnen einen Schneeballeffekt. Sogar die Justiz befasst sich mit der Frage, ob Mediziner psychisch kranken Patienten allzu großzügig Sterbehilfe zugestehen.
Gesetzgeber lässt Ärztinnen und Ärzte mit Fragen allein
Anfang 2020 wurden drei belgische Ärzte freigesprochen, die einer Autistin kurz nach der Diagnose Sterbehilfe gewährt hatten. Dabei war die 38-Jährige noch nicht mal in Behandlung und hatte zu dem Zeitpunkt Liebeskummer. Doch wie sollen Ärztinnen das unerträgliche psychische Leiden beurteilen? Und: Sind diese Patienten wirklich alle "austherapiert"? Mit diesen Fragen lässt der Gesetzgeber Ärztinnen und Ärzte allein.
Auch deutsche Experten schauen mittlerweile kritisch nach Belgien. Denn viele Fragen, die sich Therapeutinnen in unserem Nachbarland stellen, kommen auch auf uns zu. Die Tötung auf Verlangen ist zwar nach wie vor verboten. Im Februar 2020 hat das Bundesverfassungsgericht aber die Hilfe zum Suizid für legal erklärt. Das bedeutet: Jeder ist frei, sich das Leben zu nehmen und darf sich hierbei von einer Person helfen lassen. Wer einem Sterbewilligen ein tödliches Medikament beschafft, soll also künftig straffrei bleiben.
Doch in welchen Fällen möchten Mediziner das tatsächlich tun? Gerade bei psychisch kranken Menschen ist diese Frage sehr schwer zu beantworten. Christian Schmahl interessiert deshalb, nach welchen Kriterien die Belgier vorgehen wenn sie entscheiden, ob ein Patient "austherapiert" ist. Er ist Professor für Psychosomatik und Psychotherapie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim.
Als Experte für psychosomatische Krankheiten warnt er davor, seelische Leiden vorschnell als unheilbar zu bezeichnen. Denn psychische Krankheiten führen zwar zu großem Leiden und langer Behandlungsdauer, aber vergehen laut Schmahl in vielen Fällen teilweise von selbst wieder. Oder können einer Behandlung zugeführt werden. Schmahl sieht darin einen kategorialen Unterschied zu einer unheilbaren Krebserkrankung, bei der es nur noch um die Dauer des Überlebens geht, der Tod aber absehbar ist.
Was kann die Aussicht auf Sterbehilfe verändern?
Doch was passiert, wenn plötzlich die Perspektive "Sterbehilfe" ins Spiel kommt? Verändert sich dann die Beziehung zwischen Patientin und Arzt? Definitiv, sagt die belgische Patientin Amy de Schutter. Seitdem sie weiß, dass sie Sterbehilfe in Anspruch nehmen darf, kann sie mit ihrem Psychiater über das Datum, die Beerdigung und über alles, was sie will, frei reden. Mit diesem tiefen Einblick kann ihr Autismus-Coach überlegen, was Schutters Leiden aktuell lindern könnte.
Knapp 20 Jahre, nachdem das belgische Sterbehilfe-Gesetz in Kraft getreten ist, ist das Thema heute brisanter denn je. Die Zahl der getöteten Patienten ist zehnmal so hoch wie am Anfang. Und immer mehr Patienten mit Depressionen, posttraumatischen Belastungsstörungen und Demenz nehmen Sterbehilfe in Anspruch.
Das hat Folgen: Fünf Organisationen haben Leitlinien formuliert. Sie sind deutlich strenger als das, was der belgische Gesetzgeber vorsieht. Und auf die Frage, was sie sich von der belgischen Gesundheitsministerin wünschen, haben alle Gesprächspartner mehr Geld für die Versorgung psychisch kranker – und vor allem junger – Patienten genannt. Außerdem niedrigschwellige Hilfsangebote, damit niemand lange auf einen Spezialisten warten muss. Und einen menschlichen Umgang der Helfer mit ihren Patienten.
BR 2020