Die Arbeitsbedingungen haben sich zudem in den letzten Jahren deutlich verschärft. Die Arbeit ist dichter geworden, Termindruck und Erwartungen an Flexibilität höher, Überstunden die Regel. Wenn die Arbeitsbedingungen nicht gut sind, belastet das letztlich nicht nur Menschen mit psychischen Erkrankungen. Alle anderen leiden auch darunter, sie halten es nur länger durch.
Beruflicher Wiedereinstieg: schwierig für psychisch kranke Menschen
Wenn psychisch kranke Menschen einmal aus dem ersten Arbeitsmarkt herausgefallen sind, haben sie häufig keine Chance mehr auf Wiedereinstieg: Mehr als die Hälfte der Menschen mit einer schweren psychischen Erkrankung findet keinen Weg zurück in das deutsche Arbeitssystem. Das betrifft allein in Baden-Württemberg viele tausend Menschen mit hohen Qualifikationen und vor allem dem Willen zu arbeiten.
Projekt "Rubikon": Jobcoaches informieren Arbeitgeber über Hilfebedarf
Zwar gibt es Eingliederungsmaßnahmen von Seiten des Arbeitsamts, doch die fruchten häufig nicht. Es gibt aber auch neue, zukunftsweisende Projekte, die Menschen mit psychischer Erkrankung wieder zurück in den Beruf bringen sollen. Eines davon ist Rubikon, eine gemeinschaftliche Initiative des Rudolf-Sophien-Stifts und der Stadt Stuttgart. Das Besondere am Rubikon-Projekt ist die enge, individuelle Begleitung der Unternehmen wie auch der Teilnehmenden, erklärt Jobcoach Carolin Stemmler.
Ein Arbeitnehmer mit Rückenbeschwerden kann durch eine Hebehilfe oder einen ergonomischen Bürostuhl unterstützt werden. Bei psychischen Erkrankungen geht es nicht um technische Lösungen, sondern um Kommunikation und Begleitung. Und eigentlich schreibt der Gesetzgeber auch für die psychische Belastung eine sogenannte Gefahrenbeurteilung des Arbeitsplatzes vor.
Doch viele Führungskräfte wissen nicht, wie sie die Gefahr überhaupt korrekt beurteilen können. Auch hier helfen die Jobcoaches von Rubikon. Die Arbeitgeber werden nicht über Diagnosen im Detail informiert, sondern um den konkreten Hilfebedarf und wie dieser am Arbeitsplatz geboten werden kann.
Solche Projekte zum Wiedereinstieg sind eine große Chance. Dennoch bleibt die Frage: Was ließe sich tun, damit psychisch kranke Menschen gar nicht erst arbeitslos werden? Nicht nur der soziale Schaden für die Betroffenen ist immens, auch die volkswirtschaftlichen Kosten.
Psychische Erkrankungen verursachen Kosten von rund 60 Milliarden Euro
Die Bundesanstalt für Arbeit und Arbeitsmedizin hat erhoben, dass im Jahr 2018 über 90 Millionen Krankheitstage auf psychische Erkrankungen zurückzuführen sind. Die daraus resultierenden Kosten für Behandlung und Krankengeld schlagen mit 44,4 Milliarden Euro pro Jahr zu Buche. Dazu kommen Kosten für den Produktionsausfall, die sich auf 13,3 Milliarden Euro belaufen.
Eigentlich müsste das Grund genug sein, die Unterstützung für psychisch kranke Menschen zu optimieren. Doch dies ist nicht immer der Fall. Kliniken sind kaum mit dem betrieblichen Eingliederungsmanagement in Kontakt und viele niedergelassene Psychologen legen wenig Augenmerk auf die Arbeitsprobleme ihrer Klienten.
Erkrankung vermeiden und Probleme am Arbeitsplatz frühzeitig erkennen
Das Kompetenzzentrum für seelische Gesundheit am Arbeitsplatz am Universitätsklinikum Ulm erforscht, wie diese Lücke zu schließen sein könnte. Ein Ansatz, der dort entwickelt wurde, ist die Psychosomatische Sprechstunde im Betrieb. Die Erfahrungen mit dieser Betriebssprechstunde sollen zeigen, ob es hilfreich ist, wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schon früh erreicht werden, also nicht erst, wenn der Druck so groß ist, dass sie aus dem Arbeitsleben herausfallen. Die ersten Erfahrungen sind vielversprechend.
Die Betriebssprechstunde ist zudem ein niedrigschwelliges Angebot. Die Betroffenen müssen sich nicht selbst auf die Suche nach Hilfe machen, und ihr Anliegen bleibt anonym, sprich: Die Kollegen und Vorgesetzten wissen nicht, was der Anlass des Gesprächs mit dem Betriebsarzt ist. Vor allem der frühe Zeitpunkt, zu dem die Betroffenen Hilfe erhalten, ist eine große Chance.
Umdenken in den Unternehmen: psychische Erkrankungen nicht stigmatisieren
Auch in den Betrieben selbst findet ein Umdenken statt. Der Leiter des Fachreferats für psychische Gesundheit für den Siemens-Konzern hat im Gespräch mit Führungskräften festgestellt, dass diese sich mehr Kompetenz in diesem Bereich wünschen. Das daraus resultierende Lernprogramm ist Teil des Siemens-Konzepts „Breaking the Silence“, das sich zum Ziel gesetzt hat, psychische Erkrankungen weniger zu stigmatisieren.
In diesem Rahmen entstanden Videos mit Firmenmitarbeitern, in denen diese ihre Krankengeschichte erzählen und ihre Kolleginnen und Kollegen ermuntern, offener mit psychischer Erkrankung umzugehen. Diese Ansätze sind ein erster Schritt, doch Birner sieht, dass es grundlegender Änderungen bedarf, um psychisch kranken Menschen im Beruf gerecht zu werden.
Arbeitsbedinungen hinterfragen
Denn diese Bemühungen finden in einer Zeit statt, in der Motivation und Hingabe an den Beruf zu neuen Paradigmen geworden sind. Die ideale Mitarbeiterin muss nicht nur leistungsstark sein, sondern ununterbrochene Leidenschaft für ihren Beruf ausstrahlen. Ist es dann der richtige Weg, psychische Probleme zu individualisieren und die Verantwortung allein bei den Betroffenen zu belassen? Wäre es nicht ebenso wichtig, die Arbeitsbedingungen zu hinterfragen, die in einem beträchtlichen Teil der Fälle Auslöser für eine Erkrankung sind?
Viele sehen psychisch kranke Menschen zumeist nur mit ihren Defiziten. Wir könnten sie aber auch als sensible Indikatoren wahrnehmen, die zeigen, wo unsere Arbeitswelt sich endlich verändern sollte.