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Minne, Pest und Hexenjagd? – Neue Sicht aufs Mittelalter

Stand
Autor/in
Andrea Lueg
Andrea Lueg
Onlinefassung
Ulrike Barwanietz
Gábor Paál
Gábor Paál

Düster, dreckig, dämonisch – das europäische Mittelalter gilt vielen als finstere Epoche. Dabei waren Wirtschaft und Gesellschaft viel bunter und kreativer als lange angenommen. Sieben der neuesten und wichtigsten Erkenntnisse.

Was viele überrascht: Das Mittelalter ist nicht das Zeitalter der Hexenverfolgung

Im ersten Semester fragt Klaus Oschema seine Studierenden nach den Bildern, die der Begriff Mittelalter bei ihnen evoziert: Macht der Kirche, Ritter, Burgen und Hexen. Und genau damit lassen sich die Vorurteile gegenüber dem Mittelalter gut dekonstruieren, so Oschema.

Denn die eigentliche Hochphase der Hexenverfolgungen und damit auch der Hexenverbrennungen ist eben gerade nicht die Zeit, die wir als Mittelalter bezeichnen, sondern Hexen werden vor allen Dingen verfolgt in der Zeit, die wir als Frühe Neuzeit bezeichnen, im 16. und 17. Jahrhundert.

Also keine Hexen. Was hat dann das Mittelalter geprägt?

Neue Forschungen über das Mittelalter

Geschichtsforschung und Archäologie haben zuletzt einige überraschende Erkenntnisse zutage gefördert. So wird von den sharing communities im Mittelalter berichtet, von Waldgenossenschaften und anderen nachhaltigen Konzepten, von Baustoffrecycling und sozialem Wohnungsbau. Kurz: von einer überaus vielfältigen und spannenden Zeitspanne, die rund 1.000 Jahre zwischen 500 und 1500 andauerte – und die einen neuen Blick wert ist.

Hier sieben der wichtigsten Erkenntnisse:

1. Im Mittelalter wurde viel weniger gearbeitet als bisher vermutet

Ausschnitt einer Seite aus dem "Tacuinum Sanitatis", einem mittelalterlichen Handbuch zu Gesundheit, Essen, Trinken und Kleidung, datiert vor 1400
Ausschnitt einer Seite aus dem "Tacuinum Sanitatis", einem mittelalterlichen Handbuch zu Gesundheit, Essen, Trinken und Kleidung, datiert vor 1400

Annette Kehnel, Professorin für mittelalterliche Geschichte an der Uni Mannheim, hat sich unter anderem mit dem Arbeitspensum der Menschen im Mittelalter beschäftigt. Auch das ist nämlich eine falsche Vorstellung, dass tagein tagaus von früh bis spät geschuftet wurde.

Es ist wirklich witzig, wie das so als unausgesprochenes Wissen, tacit knowledge nennt man das auch, in unseren Köpfen irgendwie drinne ist und dabei ganz konkret: zum Beispiel die Fünf-Tage-Woche war im Mittelalter die Normalität.

Erst während der Reformation wurde die Fünf-Tage-Woche abgeschafft und mehr gearbeitet. Bis dahin war der blaue Montag durchaus üblich, genauso wie ein Frontag, also ein Arbeitstag für den Herrn – beziehungsweise: nur ein halber Arbeitstag. Es gab also Freizeit und in dieser Zeit muss es auch Raum für Schönes, Interessantes, Fröhliches gegeben haben.

2. Im Mittelalter kannte man bereits pandemische Maßnahmen

Manche Stereotype sind aber auch nicht vollkommen falsch. Die Pest etwa war tatsächlich eine schlimme Bedrohung für die Menschen im Mittelalter. Vor allem, als die Krankheit noch kaum bekannt war und die Menschen keine Idee hatten, wie sie mit ihr umgehen sollten. Seit dem Ausbruch in der Mitte des 14. Jahrhunderts fielen der Pest zwischen 20 und 35 Prozent der Bevölkerung zum Opfer.

Figur von Pest-Arzt im Mittelalter, historische medizinische Ambulanz, Volterra, Toskana Italien
Figur von Pest-Arzt im Mittelalter, historische medizinische Ambulanz, Volterra, Toskana Italien

Doch im Laufe der folgenden Jahrzehnte lernten die Menschen, mit der Pest umzugehen. Sie entwickelten pandemische Maßnahmen, die wir auch heute kennen. Sie mieden Orte, an denen die Pest grassierte, und verlegten Großereignisse, Feste und Märkte. Ein Beispiel dafür, wie lernfähig und kreativ die Menschen des Mittelalters waren.

3. Die europäische Universität wurde im Mittelalter erfunden

Das New College der University of Oxford wurde 1379 gegründet und verfügt auch heute noch über einen mittelalterlichen Speisesaal
Das New College der University of Oxford wurde 1379 gegründet und verfügt auch heute noch über einen mittelalterlichen Speisesaal

Viele Erfindungen, von denen wir noch heute profitieren, stammen außerdem aus dieser Zeit. Die Brille zum Beispiel. Und auch eine hochkomplexe Institution wie die Universität entstand im Mittelalter, etwa in der Zeit um 1200.

Vorher gibt es keine Universitäten. Es gibt Orte der Ausbildung, es gibt hohe Schulen, aber die besondere Verfassung als eine Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden, die einen eigenen Rechtsstatus besitzt, die entsteht im frühen 13. Jahrhundert zunächst in Paris, Bologna und Oxford. Das sind die drei klassischen Keimzellen.

4. Frauen konnten im Kloster endlich machen, was sie wollten

Selbstporträt von Herrade von Landsberg und weiterer Nonnen ihres Klosters - abgebildet im Hortus Deliciarum, der ersten nachweislich von einer Frau verfassten Enzyklopädie von 1180
Selbstporträt von Herrade von Landsberg und weiterer Nonnen ihres Klosters - abgebildet im Hortus Deliciarum, der ersten nachweislich von einer Frau verfassten Enzyklopädie von 1180

Das Klosterleben bot für viele Frauen im Mittelalter entgegen allen Klischees einen Raum besonderer Freiheiten. Das fing schon damit an, dass sie zum Beispiel nach dem Tod ihres Ehemanns hier Zuflucht finden konnten.

Nicht alle Frauen wollten wieder heiraten, aber natürlich oftmals, wenn es reiche Witwen waren oder wenn es Adlige waren, dann war der Druck auf diese Frauen, wieder zu heiraten, natürlich groß. Und diesem Druck konnten sie sich durch eine Klostergründung, durch den Eintritt in ein Kloster entziehen und dann machen, was sie wollten. Es gab immer wieder Fälle, wo sie gesagt haben: Wir brauchen diesen Schutz und wir wollen uns diesem Zwang entziehen.

Eva Schlotheuber hat gemeinsam mit Henrike Lähnemann, die deutsche Literatur des Mittelalters an der Uni Oxford lehrt, im Frühjahr 2023 ein Buch veröffentlicht: "Unerhörte Frauen – Die Netzwerke der Nonnen im Mittelalter". Auch Janina Ramirez porträtiert Wissenschaftlerinnen, Mäzeninnen, Gesetzlose und Anführerinnen des Mittelalters in ihrem Buch "Femina – Eine neue Geschichte des Mittelalters aus Sicht der Frauen".

Diese Forschungsergebnisse zeigen, wie weit der Horizont dieser Frauen gewesen sein muss, denn sie reisten zum Teil viel und tauschten sich mit vielen anderen aus.

5. Das Mittelalter war divers

Karte von London (1572)
Karte von London (1572)

Das Mittelalter war zudem keine Zeit, in der in Europa nur weiße Menschen lebten, eine Stadt wie London war schon damals sehr divers und vermutlich wesentlich vielfältiger als lange Zeit angenommen. Vor 100 Jahren hätte man darüber noch die Geschichte der großen weißen Männer geschrieben, die politische Ereignisse dominieren. Jetzt fragt man: Wie setzt sich die Gesellschaft zusammen, wie durchmischt und divers waren Gesellschaften?

Ich würde schon auch sagen, dass in Sachen Lebensformen die Moderne mit einem Verlust an Vielfalt einhergeht. Wir haben uns zunehmend konzentriert auf Familie und seit dem 20. Jahrhundert auch diese Blutsbande, genetisch verwandte Familien. Genetik spielte vor Darwin ja nicht so eine große Rolle. Welche Kinder genetisch meine eigenen waren und welche nicht, das war bedeutungslos in einer Zeit, in der es keine Vaterschaftstests gab.

6. Das Mittelalter war sozial und nachhaltig

Illustration eines Schmieds im 15. Jahrhundert aus "A Short History of the English People" von John Richard Green 1893
Illustration eines Schmieds im 15. Jahrhundert aus "A Short History of the English People" von John Richard Green 1893

Von den über 1.500 verschiedenen Berufen im mittelalterlichen Frankfurt war ein großer Teil im Bereich Reparatur angesiedelt. Heute gibt es in Deutschland insgesamt nur noch 326 Ausbildungsberufe.

Annette Kehnel, Professorin für mittelalterliche Geschichte an der Uni Mannheim, hat sich zudem genauer mit dem mittelalterlichen Wirtschaften beschäftigt. "Wir konnten auch anders – Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit", heißt ihr Buch. Sie beschreibt darin, wie ressourcenschonendes, nachhaltiges und gemeinnütziges Denken im Mittelalter funktionierte.

Denn praktisch alles bis aufs letzte Hemd wurde im Mittelalter wiederverwertet. Das Wort "Abfall" tauche erst im frühen 20. Jahrhundert in Wörterbüchern auf, schreibt Kehnel. Aber auch Projekte mit Gemeinsinn stellt sie vor:

Da sind zum Beispiel diese Mikrokreditbanken für die Armen, die die Städte in Oberitalien in Zeiten absoluten wirtschaftlichen Aufschwungs gegründet haben, um den Armen Zugang zu Kapital zu verschaffen. (…) Die Stadträte selber haben gesagt: Okay, wer reich wird und dabei immer mehr Armut produziert, das geht gar nicht.

7. Das Mittelalter kann unsere Zukunft inspirieren

Die vielen Klischees vom Mittelalter werden zwar bereits seit den 1970ern hinterfragt. So intensiv wie heute aber wohl noch nie. Kann das Mittelalter uns sogar Ideen liefern, wie wir heute leben, wirtschaften, füreinander sorgen wollen?

Wenn wir wissen, was es für Alternativen wo geben kann und gegeben hat und was auf welche Weise wichtig war und funktioniert hat und auch würdig war für die verschiedenen Mitglieder der Gesellschaft, dann können wir unserer Jetztzeit ein bisschen kritischer gegenüberstehen und sagen: An dem Punkt können wir vielleicht was entwickeln und haben Inspirationen für was Neues.

SWR 2023

Buchtipps

  • Annette Kehnel: "Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit". Blessing Verlag 2021
  • Henrike Lähnemann, Eva Schlotheuber: "Unerhörte Frauen. Die Netzwerke der Nonnen im Mittelalter". Propyläen Verlag 2023
  • Janina Ramirez: "Femina. Eine neue Geschichte des Mittelalters aus Sicht der Frauen". Aufbau Verlag 2023

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