Allabendlich zieht die Schäferin Leona Sakowski einen Zaun um ihre 750 Schafe. Der erfüllt die Vorgaben des baden-württembergischen Herdenschutz-Konzeptes: 90 bis 120 Zentimeter hoch, drei bis fünf stromführende Drahtlitzen mit Minimum 4000 Volt. Starke Stromschläge sollen dem Wolf klarmachen, dass er hier keine Beute machen wird.
Bislang hat die Wanderschäferin aus Baden-Baden keinen Wolfsangriff auf ihre Tiere erlebt. Allerdings weiß sie, dass die Gefahr real ist – und ziemlich nah. Denn einer der vier territorialen Wölfe in Baden-Württemberg hat sein Revier im Nachbartal, nur wenige Kilometer von ihrer Herde entfernt. Nach Wolfsmaßstäben ein „Katzensprung“.
Ein erwachsener Wolf benötigt pro Tag drei bis vier Kilogramm Fleisch
Ein erwachsener Wolf benötigt pro Tag drei bis vier Kilogramm Fleisch. Das summiert sich im Jahr auf etwa 60 Rehe oder 16 Hirsche. Eine Menge, die die Wild-Populationen im Schwarzwald problemlos hergäben. Aber der Beutegreifer ist lernfähig und energiebewusst. Warum sich anstrengen und jagen, wenn ihm Schafe auf einer Weide präsentiert werden?
Die Sorge um Schaf- und Ziegenherden sei berechtigt, so das FVA
Die Wildtierbiologin Hannah Weber leitet bei der Forstlichen Versuchsanstalt FVA in Freiburg das Wolfsmonitoring. Die Sorgen um ihre Schafe und Ziegen, die Angst der Schäferinnen und Schäfer vor „dem Wolf“ hält die Freiburger Wildtierbiologin Hannah Weber für berechtigt.
Denn die vier derzeit sesshaft in Baden-Württemberg lebenden Tiere sind aus ihrer Sicht nur eine Vorhut, Pioniere gewissermaßen. In anderen Bundesländern leben bereits mehr Wölfe: In Rheinland-Pfalz sollen es knapp 20 sein, in Niedersachsen sind es schon 34 Wolfsrudel, und Brandenburg hat mit 49 Wolfrudel die meisten Wölfe in Deutschland. Es ist nahezu sicher, dass die Wolfspopulation auch in Baden-Württemberg zunehmen wird.
Beim „Surplus-Killing“ zerreißt der Wolf mehrere Tiere
Immer wieder geschieht es, dass ein Wolf nicht einfach nur ein Schaf oder eine Ziege reißt, frisst und dann wieder verschwindet. Sondern dass er oder das Rudel mehrere Tiere tötet oder schwer verletzt, die Beute regelrecht zerreißt und über eine ganze Fläche verteilt. Regelmäßig kursieren drastische Bilder und Berichte von solchen vermeintlichen „Gewaltorgien“, die dem Wolf das Image eines blutrünstigen Serienkillers anheften.
Das Bild vom „bösen Wolf“ sei falsch, betont Wildtierbiologin Hannah Weber. Für sein Verhalten gebe es eine plausible Erklärung: Da die Schafe einer eingezäunten Herde nicht fliehen können, werde der Beutereflex des Wolfes immer wieder aufs Neue ausgelöst. In freier Natur laufen die Schafe davon, sobald er ein Tier gefangen hat.
Herdenschutzhunde arbeiten in der Schweiz selbstständig
In der Schweiz hat der Herdenschutz vor rund 15 Jahren begonnen. Für den Schutz von Schafen und Ziegen vor „dem Wolf“ empfiehlt die landwirtschaftliche Beratungsstelle „Agridea“ den Landwirten eine Kombination aus drei Elementen: Hirte, Elektrozaun und Herdenschutzhund.
Herdenschutzhunde sind eine Spezialität in den Schweizer Bergen, sie beschützen die Herde, ohne dass ein Hirte anwesend sein muss. Klassische „Hütehunde“ treiben die Schafe oder Ziegen hingegen nur zusammen, Herdenschutzhunde sind die Wache für die Herde, sie stellen sich potentiellen Angreifern in den Weg. In Deutschland sind Herdenschutzhunde jedoch nicht erlaubt.
In Deutschland leben 1.500 bis 2.000 Wölfe
Den eidgenössischen Herdenschutz eins zu eins auf baden-württembergische Verhältnisse zu übertragen, ist nicht möglich. In der Schweiz leben etwa 150 erwachsene Wölfe, in Baden-Württemberg vier – in ganz Deutschland 1.500 bis 2.000. Auch sonst gibt es einige Unterschiede: andere geographische Gegebenheiten, eine andere Art der Tierhaltung, andere Herdengrößen und Bezahlung der Hirten, andere rechtliche Rahmenbedingungen.
Der Wolf, eine geschützte Tierart
Vom Erfolg der Herdenschutzmaßnahmen hängt für den Wolf selbst viel ab. Denn noch ist er eine geschützte Tierart, die nicht geschossen werden darf. Wächst parallel zum Wolfsbestand die Zahl der Angriffe auf Nutztiere, weil einzelne Tiere oder ganze Rudel lernen, Zäune und andere Schutzvorrichtungen immer wieder zu überwinden, dann könnte der Wolf irgendwann diesen gesetzlichen Schutz verlieren. Und es droht vielleicht doch, was bislang noch streng verboten ist: die Regulierung des Wolfsbestandes – mit dem Gewehr.
SWR 2022/2023