Das Jahr 1933, in dem Hitler an die Macht kam und Arendt als Jüdin ins Exil musste, sei nicht der große Bruch in ihrem Leben, meint sie. Entscheidend sei der Tag gewesen, an dem sie und ihr Mann von Auschwitz erfuhren.
Dies hätte nie geschehen dürfen, wie ich immer sage. Und damit meine ich nicht die Zahl der Opfer, sondern ich meine die Fabrikation der Leichen und so weiter, ich brauch mich ja darauf nicht weiter einzulassen. Dies hätte nicht geschehen dürfen. Da ist irgendetwas passiert, womit wir alle nicht mehr fertig werden.
Was ist Politik?
Der Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus beschäftigt Hannah Arendt im amerikanischen Exil. Sie will begreifen, wie es dazu kommen konnte. Doch sie fragt auch, wie Freiheit entsteht – für sie in einem demokratischen, toleranten Gemeinwesen, in dem Gleiche unter Gleichen miteinander sprechen und streiten. In ihrem Buch „Was ist Politik?“ kommt sie zu dem ebenso lapidaren wie überraschenden Schluss: Der Sinn von Politik ist Freiheit.
Anfang 2018 erschien ein bislang unveröffentlichter Essay von Hannah Arendt aus ihrem Nachlass, der ein Bestseller wurde: „Die Freiheit, frei zu sein“. Arendts Forderung nach universellen Grundrechten, nach Freiheit und Gleichheit für alle Menschen ist hoch aktuell in einer Zeit, die geprägt ist von weltweiter Migration, gefährdeter Pressefreiheit und Aushöhlung von Demokratien.
Nur diejenigen, die die Freiheit von Not kennen, wissen die Freiheit von Furcht in ihrer vollen Bedeutung zu schätzen, und nur diejenigen, die von beidem frei sind, von Not wie von Furcht, sind in der Lage, eine Leidenschaft für die öffentliche Freiheit zu empfinden.
Wehrhaftigkeit und mütterlicher Schutz
Hannah Arendt wird am 14. Oktober 1906 in Linden bei Hannover geboren. Ihre Mutter ist nicht religiös, pocht aber auf ihre jüdische Herkunft und lehrt die Tochter Wehrhaftigkeit. Wenn im Unterricht antisemitische Bemerkungen fallen, soll sie aufstehen, gehen und daheim alles erzählen, worauf die Mutter der Schule geharnischte Briefe schreibt.
1928 promoviert Hannah Arendt bei Karl Jaspers und heiratet im Jahr darauf den Philosophen Günther Stern, der sich später als Schriftsteller Günther Anders nennt. Die Ehe hält nicht lang, doch durch ihn lernt sie kommunistische Denker kennen, und der Aufstieg der Nazis politisiert sie endgültig.
Im Pariser Exil begegnet sie dem deutschen Intellektuellen Heinrich Blücher. Er ist ihre zweite große Liebe nach Martin Heidegger, sie heiraten 1940. Dann marschieren die Deutschen in Frankreich ein, Arendt kommt in ein Internierungslager. Sie kann fliehen und erhält mit ihrem Mann Visa in die USA.
Denken ohne Geländer
1951 erscheint ihr Buch „The Origins of Totalitarianism“. Sie untersucht den Nationalsozialismus und den Stalinismus und stellt fest, dass beide auf ähnliche Weise Freiheit unterdrückten und Millionen Menschen ermordeten.
Arendts Totalitarismus-Buch ist ein Erfolg. Sie wird weltweit zu Vorträgen eingeladen und erhält Lehraufträge an US-Universitäten. Während ihr Mann Philosophie-Professor am New Yorker „Bard College“ wird, lehnt sie zunächst Professuren ab, die ihr angeboten werden.
Sie genießt die Arbeit als Philosophin und politische Theoretikerin, die sich keinen akademischen oder politischen Zwängen beugen muss. Sie folgt keiner bestimmten Theorie, gehört keiner Schule an. „Denken ohne Geländer“ nennt sie das einmal.
Freiheit und Recht
Die Philosophin nimmt ab 1949 auch Einladungen zu Vorträgen nach Deutschland an – was ihrem Mann nicht passt, er will nie mehr dahin zurück. Aber sie sieht das Land, das sie vertrieben hat, nicht nur als Hitlers Land.
1961 berichtet Arendt für die Zeitschrift „New Yorker“ aus Jerusalem vom Prozess gegen den Nazi-Kriegsverbrecher Adolf Eichmann. Auch hier beharrt sie auf ihrer eigenen Sicht, sieht in Eichmann, der die Deportation von Millionen Menschen in Lager organisierte, keine Bestie, sondern die „Banalität des Bösen“. Zudem weist sie darauf hin, dass auch jüdische Räte mit den Nazis kooperiert hätten.
Neben der „Freiheit, frei zu sein“ fordert Hannah Arendt auch ein ganz grundsätzliches „Recht, Rechte zu haben“. Egal, wohin ein Mensch kommt, unter welchen Umständen, und in welcher Situation er ist: Er darf sich nie in einem rechtsfreien Raum befinden. Als Jüdin in Nazideutschland und Exilantin im besetzen Frankreich wusste sie, wie es war, keine Grundrechte zu haben.
Der Verlust der Menschenrechte findet statt, wenn der Mensch den Standort in der Welt verliert, durch den allein er überhaupt Rechte haben kann und der die Bedingung dafür bildet, dass seine Meinungen Gewicht haben und seine Handlungen von Belang sind.
In ihren letzten Jahren schreibt sie Aufsätze und Vorträge, die fragen, wie der Mensch denkt, wie ihn sein Willen bestimmt, wie er zu Urteilen kommt. Ein geplantes Buch darüber soll „Vom Leben des Geistes“ heißen; es bleibt Fragment und wird aus ihrem Nachlass herausgegeben. Am 4. Dezember 1975 hat Hannah Arendt einen zweiten Herzinfarkt.
Ihre Asche wird, wie zuvor die ihres Mannes, auf dem Campus des New Yorker Bard Colleges beigesetzt. In den USA ist sie längst eine berühmte Philosophin und politische Theoretikerin, in Deutschland aber wenig bekannt. Den 68ern ist sie suspekt, weil sie darauf beharrt, weder „rechts“ noch „links“ zu sein. Und im Osten ist ihre Kritik am Stalinismus tabu.
Neben dem Tod gibt es auch den Anfang
Erst nach 1989 erkennt man die Bedeutung ihres Denkens „ohne Geländer“. Es gibt wissenschaftliche Konferenzen über ihr Werk und an der Uni Oldenburg entsteht das „Hannah-Arendt-Zentrum“. Und im Göttinger Wallstein Verlag entsteht eine kommentierte Werkausgabe, die ebenfalls auf Oldenburger Bestände zurückgreift.
Bei Arendts erstem philosophischen Lehrer Martin Heidegger läuft das Leben unausweichlich auf den Tod zu, der alles überschattet. Sie sieht es mit dem spätantiken Denker Augustin anders: Mensch sein heißt zwar auch sterben müssen, aber vor allem anfangen können.
Sofern er ja nicht immer existiert hat, sondern erst durch Geburt als etwas ganz und gar Neues in eine Welt, die vor ihm war und nach ihm sein wird, hineingekommen ist. Weil er ein Anfang ist, meint Augustin, kann der Mensch etwas Neues anfangen, also frei sein.
Selbstdenken und Grundvertrauen
Arendt geht davon aus, dass Freiheit grundsätzlich möglich sei, wenn man sich darum bemühe – zum Beispiel auch mit einer Revolution. Ihr Denken ist im Kern hoch optimistisch. Sie glaubt an den Menschen, der selbst denkt, ohne Ideologien und Scheuklappen, an Gemeinschaft und Gespräch.
Doch aktuelle politische Diskussionen werden oft intolerant geführt, mitunter verroht die Sprache. Und wo sich Menschen zu öffentlichem Protest zusammentun, geht es oft weniger um eigene Freiheit, als um Ressentiments gegen Religionen oder Hautfarben. Grundrechte werden nicht gefordert, sondern anderen abgesprochen. Und in den USA wie auch Teilen von Europa gibt es einen neuen Nationalismus, vor dem Arendt schon in den 1950er-Jahren warnte.
SWR 2018
Bücher von Hannah Arendt:
- Die Freiheit, frei zu sein. Mit einem Nachwort von Thomas Meyer. München: dtv 2018
- Über die Revolution. München: Piper 2016
- Denken ohne Geländer. Texte und Briefe. Hg. von Heidi Bohnet und Klaus Stadler. München: Piper 2017
- Freundschaft in finsteren Zeiten. Die Lessing-Rede mit Erinnerungen von Richard Bernstein, Mary McCarthy, Alfred Kazin und Jerome Kohn. Hg. von Matthias Bormuth. Berlin: Matthes und Seitz 2018
Biografien:
- Alois Prinz: Hannah Arendt oder Die Liebe zur Welt. Berlin: Insel 2012
- Thomas Wild: Hannah Arendt. Leben, Werk, Wirkung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006