Overview-Effekt und Corona-Krise: Gefühl der Verantwortung für die Umwelt
Der Overview-Effekt ist vor allem in der Raumfahrt zu finden, wenn Astronauten vom All aus die Erde neu sehen. Der Astronaut Prinz Sultan Bin Salman al Saud erinnert sich an seinen Aufenthalt im All:
Er berichtet, wie die Astronauten am ersten Tag im All noch auf ihre Länder zeigten, dann auf die Kontinente und nach ein paar Tagen nur noch auf den Planeten Erde.
Der Overview-Effekt verhindert, sich ausschließlich egoistisch mit sich selbst zu beschäftigen und hilft, sich als Teil eines größeren Systems zu erkennen. Der Blick aus dem All erzeugte Mitleid mit dem Planeten, ein profundes Verständnis der großen Zusammenhänge des Lebens sowie das Gefühl der Verantwortung für die irdische Umwelt. Diese Tugenden benötigen wir dringender denn je. Genau diesen Effekt könnte auch die Corona-Krise auslösen.
Eine neue Perspektive auf die Welt und die Gesellschaft
Gegenwärtig zwingt uns ein unsichtbares Virus eine neue Perspektive auf unsere Welt auf. Corona hat den Overview-Effekt im planetarischen Maßstab demokratisiert. In der irdischen Variante könnte uns deshalb die neu gewonnene ganzheitliche Perspektive auch den Weg aus der Krise weisen und notwendigen Treibstoff für soziale Transformationen und progressive Veränderungen liefern. Corona wäre dann im Idealfall eine Art philosophischer Katalysator.
In dieser Variante würde der Overview-Effekt helfen, Denk- und Handlungsblockaden aufzulösen, die uns viel zu lange gelähmt haben. In kürzester Zeit werden gegenwärtig Einsichten gewonnen, für die sonst lange Zeiträume notwendig waren.
Corona kann als Überholspur im Alltagslabor der Menschheit verstanden werden, auf der unser Denken beschleunigt. Der Corona-Effekt macht deutlich, wie die Vollkasko-Mentalität, die lange Zeit die unhinterfragte Grundlage vieler Existenzen war, nun von einem seuchenpolitischen Imperativ abgelöst wird: Zusammenarbeiten! Zusammenhalten!
Kampf gegen das Monster des Bodenlosen
Dieser Imperativ könnte uns helfen, die Haltung zu überwinden, mit der wir lange Zeit das Monster des Bodenlosen heranzüchteten, das uns nun alle erschreckt. Wir alle sind von seinen Drohgebärden – soziale Desintegration, planetarische Zerstörung, globale Ungleichheiten und individuelle Erschöpfung – eingeschüchtert. Das Monster beutet uns immer perfider aus. Es erzeugt nicht nur Unordnung, Angst und Neurosen. Es führt auch zum vollständigen Verlust des gesellschaftlichen Gravitationszentrums.
Dieser neoliberale Kreuzzug rächt sich jetzt, wenn nach einer jahrzehntelangen sozialen Kälteperiode plötzlich umfassende Solidarität gefordert wird. Und es besteht gerade deshalb die Chance, utopisches Denken neu zu entdecken, die Routinen und statischen Denkmuster zu erlassen.
Im Zuge der Krise ist Kooperation statt Konkurrenz die neue Grundsubstanz für diesen Wandel – Grundlage einer gerechten Gesellschaft ist gegenseitige Unterstützung. Irgendwo im Leben von Individuen muss etwas existieren, das die Rettung ganzer Gemeinschaften bewirken kann, sonst ist das Experiment Gesellschaft zum Scheitern verurteilt. Das Ego des Einzelnen muss sich den Bedürfnissen der menschlichen Gemeinschaft unterordnen.
Hemmende Utopiemüdigkeit jetzt überwinden
Doch trotz zahlreicher Manifeste zur Rettung der Welt, trotz Leitbildern entstand bislang keine bessere Welt. Fehlende Langfristorientierung, Verlustaversion, liebgewonnene Gewohnheiten, das Einrichten in der Komfortzone, Pfadabhängigkeiten in Politik und Wirtschaft – das alles sind Gründe für die hemmende Utopiemüdigkeit, die wir gerade jetzt überwinden können und müssen.