Die Sinti und Roma sind die größte Minderheit in Europa: zehn bis zwölf Millionen Menschen. Doch wie sie leben, wie ihr Alltag aussieht, ihre Sprache klingt, welche Traditionen sie pflegen, wissen viele nicht.
Viele wissen nur, dass die Sinti und Roma verfolgt und ermordet wurden, unter den Nazis, aber auch anderswo. Wegen dieser Erfahrungen verbergen viele Sinti und Roma bis heute ihre Identität. Doch ihre Geschichten sind mehr als Geschichten der Ausgrenzung. Es sind Geschichten über Anpassungsfähigkeit und Überlebenswillen, über Stolz und Lebensfreude, über einen Aufbruch in ein neues Selbstbewusstsein.
Rassismus in der Sprache und Benachteiligung im Bildungswesen
Der Antiziganismus, wie die rassistische Diskriminierung von Sinti und Roma genannt wird, ist in Deutschland immer noch präsent. Oft hat er ganz plump mit diesem einen Wort zu tun: „Zigeuner“, das leider immer noch verwendet wird.
Dass Sinti und Roma vor allem im deutschen Bildungswesen benachteiligt werden, zeigen wissenschaftliche Studien. Die Schule spielt eine bedeutende Rolle, denn sie ist der Ort, für den junge Sinti oft zum ersten Mal den Schutz ihrer Familie verlassen. Die Befragten berichten, dass Lehrkräfte und Mitschüler abfällige Bemerkungen machen, dass sie pauschal auf niedrigere Bildungswege geschoben wurden. Dass viele zuhause zweisprachig aufwachsen, wird nicht gewürdigt.
Roma in Rumänien
Die offizielle Definition von Roma in Rumänien sprach bis 2012 von „Personen mit asozialem Verhalten“, bis die rumänische Akademie verklagt wurde, erzählt Gelu Duminica. Er ist Professor für soziale Arbeit und Aktivist bei der NGO „Impreuna“ – auf Deutsch „miteinander“.
Professor Duminica ist selbst Roma und Ansprechpartner für EU-Behörden und westliche Regierungen, die Entwicklungsprojekte für Roma mit Geld unterstützen. Er erzählt, dass Roma in ganz Rumänien diskriminiert würden, trotz aller Regelungen zur politischen Mitbestimmung.
Niemand weiß, wie viele Roma in Rumänien leben
Im Zweiten Weltkrieg wurden Roma in dem mit den Nazis verbündeten Land deportiert und getötet. Im Sozialismus unter Diktator Ceausescu wurden sie zwar erstmals offiziell als „vollwertige Mitbürger“ bezeichnet, doch die meisten blieben bei Bildung, Jobchancen und Infrastruktur weiterhin außen vor.
Heute weiß niemand, wie viele Roma genau in Rumänien leben. Professor Duminica schätzt, dass es um die 1,5 Millionen sind.
Elena Baciu, Professorin für soziale Arbeit an der Universität in Temeschwar, ist besorgt. Die Professorin forscht seit Jahren zu den rumänischen Roma-Siedlungen, kennt auch jene von Lidianas Familie.
Armutsrisiko sinkt, wenn höhere Bildung erreicht wird
Die Forschungen von Professorin Baciu belegen, dass das Armutsrisiko auch bei Roma sinkt, wenn sie eine höhere Bildung erreichen. Wenn. Denn es gibt zwar eine spezielle Quote in den Gymnasien und Unis für Roma, doch diese leben oft viel zu weit weg von den Bildungseinrichtungen. Wer der Armut entfliehen möchte, brauche nicht nur unfassbar viel Glück, sondern müsse mit seinen Wurzeln brechen, findet Professorin Baciu.
Es scheint fast ausweglos. So viele Roma leben noch immer isoliert von der Mehrheitsgesellschaft, werden verachtet und gemieden. Rumänien ist eines der ärmsten Länder Europas. Doch in Frankreich, einem der reichsten Länder der EU, sieht es ähnlich aus.
Die Gitanes in Südfrankreich
In Perpignan nahe der spanischen Grenze leben die sich selbst so bezeichnenden “Gitanes”, eine katalonische Rom-Gruppe. Ihre Familien haben sich während des Zweiten Weltkriegs im historischen Stadtviertel Saint-Jacques angesiedelt. Nachdem die französische Regierung ein Dekret zur Sesshaftmachung erlassen hatte und die jüdischen Bewohner, nun selbst auf der Flucht, ihre Häuser günstig an die Gitanes weiterverkauft hatten.
Heute ähnelt der Stadtteil einem Ghetto. Die Häuser sind einsturzgefährdet. Der Drogenhandel grassiert. Viele der Kinder und Jugendlichen gehen nicht in die Schule. Laut offiziellen Statistiken liegt der Arbeitslosenanteil bei über 80 Prozent, die Lebenserwartung zehn Jahre unterhalb des Durchschnitts.
Besonders für Frauen ist das Leben inmitten von Armut und patriarchalen Strukturen hart, denn sie heiraten sehr jung und dürfen keine Arbeitsstelle antreten. Die Polizei verschließt die Augen und meidet das Ghetto.
Doch die Menschen sind trotz ihrer schwierigen Lage stolz auf ihre Traditionen. Und darauf, dass es ihnen bis heute gelingt, sich ihre ganz eigene Identität zu bewahren.
SWR 2022/2023