Die SPD gibt sich ein neues Grundsatzprogramm. Sie reformiert sich und ihren Anspruch – weg von der reinen sozialistischen Arbeiterpartei hin zu einer Volkspartei. Wirtschaftspolitisch bekennt sich die Partei jetzt deutlicher zur Marktwirtschaft. „So viel Markt wie möglich, so viel Planung wie nötig“, ist jetzt die Devise.
Willy Brandt:
"Liebe Genossinnen und Genossen, ich habe zu denen gehört, die ursprünglich Bedenken hatten gegen die Verabschiedung des Programms zu diesem Zeitpunkt. Drei Gründe haben mich veranlasst, zusammen mit dem ganz überwiegenden Teil der Berliner Parteiorganisation für die Verabschiedung auf dieser Grundlage einzutreten.
1. Es ist eine im Ganzen und im Wesentlichen zeitgemäße Aussage, die uns in unserer Arbeit helfen wird und die es unseren Gegnern schwerer machen wird, sich mit einem Zerrbild statt mit der Wirklichkeit der deutschen Sozialdemokratie auseinanderzusetzen.
2. Es ist ein Programm, dass die deutsche Sozialdemokratie nach den bitteren, noch immer nicht abgeschlossenen Erfahrungen mit dem Totalitarismus darstellt als eine kämpferisch demokratische Freiheitsbewegung dieser Zeit. Eine Partei, die den Mut hat und über die Kraft verfügt, als das zu erscheinen, was sie ist.
Und 3. Es ist, so meine ich, ein Programm, das noch klarer als bisher – wobei bei uns ja über eine Fülle von Einzelfragen im Laufe der nächsten drei Tage noch unterhalten werden – aber das in seiner Gesamtaussage noch klarer als bisher unseren Standort bestimmt, wo es sich handelt um die entscheidend wichtigen Fragen, unserer Stellung zum Staat und im Staat, einschließlich der bewaffneten Macht, unseres Verhältnisses zu den Kirchen und unserer Beurteilung dessen, was angesichts des Wandlungsprozesses der Wirtschaft erforderlich ist. In diesem Sinne wird uns das Programm zusätzliche Kraft vermitteln in unserer täglichen praktischen Arbeit.
In der Debatte der hinter uns liegenden Wochen ist unter anderem auch gesagt worden, ob wir nicht warten sollten, bis wir die Wiederherstellung des staatlichen Einheit Deutschlands erreicht hätten. Erich Ollenhauer hat heute Morgen darauf schon eine Antwort gegeben. Er hat auch bei dieser Gelegenheit ein Wort des Grußes an unsere Freunde in der Zone und an unsere Freunde, für die ich sprechen darf, in Berlin gerichtet. Ich bin ihm dafür dankbar. Ich möchte darauf mit einem Wort des Dankes der Berliner Sozialdemokraten und des Volkes von Berlin erwidern. Des Dankes für all das, was diese große deutsche Sozialdemokratie in den hinter uns liegenden Jahren für den am schwersten bedrängten Teil des freien Deutschland getan hat. Wir wären manchmal vielmehr verlassen gewesen, als wir es gewesen sind, wenn wir nicht gewusst hätten: Es gab immer einen treuen Verbündeten der bedrängten und doch lebenserfüllten deutschen Hauptstadt. Und das war die deutsche Sozialdemokratie
Aber liebe Genossinnen und Genossen, ich möchte doch noch Folgendes sagen zu diesem Argument: „Lasst uns warten bis zur Einheit.“ Wenn wir alle anderen Probleme bewältigen, die mit der Einheit Deutschlands verbunden sind, dann werden wir es auch noch schaffen, uns auf ein Programm für die Sozialdemokratie im ganzen Deutschland zu verständigen, und das heutige Programm bei allem Respekt vor ihm, als Zwischendokument zu den Akten, den wichtigen Akten der Partei zu nehmen. Im Übrigen gilt für die Partei wie für das Ganze, was im Programmentwurf selbst drinsteht. Nämlich: Erst in einem wiedervereinigten Deutschland wird das ganze Volk in freier Selbstbestimmung Inhalt und Form von Staat und Gesellschaft gestalten können.
Heute können hier in dieser Aussprache keine Einzelfragen der Wiedervereinigungspolitik erörtert werden, obgleich sicherlich in unseren Reihen weitgehende Klarheit besteht darüber, dass wir die Erfahrungen nicht nur der letzten Jahre, sondern gerade auch der letzten Monate werden zu verarbeiten haben, wenn wir unsere weiteren Beiträge zum Ausweg aus einer fast hoffnungslos erscheinenden Situation zu unterbreiten haben. Worauf es ankommt, ist dies: Es gibt keine absolut ausweglose Situation. Hitler musste nicht an die Macht kommen. Die Spaltung Deutschlands musste nicht versteinert werden. Und in der Bundesrepublik muss sich nicht ein pervertiertes Kaiser-Wilhelm-Denken durchsetzen.
Das Thema der Wiedervereinigung. Das Thema unseres Standortes im willkürlich gespaltenen Deutschland wird, und dazu darf ich noch einige Sätze sagen, im Programmentwurf unmissverständlich behandelt. Vielleicht kann die Redaktionskommission noch die eine oder andere Unterstreichung vornehmen und unter anderem noch zusätzlich klarmachen, dass die deutsche Sozialdemokratie auch dort weiterlebt, wo sie gewaltsam unterdrückt wird.
Aber ich möchte doch hier im Rahmen der allgemeinen Aussprache feststellen dürfen, welche Grundsätze zur deutschen Frage zum Lebensrecht und zur Selbstbehauptung unseres widernatürlich auseinandergerissenen Volkes im Programm niedergelegt sind. Wir beziehen uns
1. auf das Grundgesetz und stellen fest, dass wir in seinem Sinne die Einheit Deutschlands in gesicherter Freiheit erstreben. Wir sagen 2., dass die Spaltung Deutschlands einerseits den Frieden bedroht, dass zum anderen ihre Überwindung lebensnotwendig ist für das deutsche Volk.
Wir müssen diese Aussage, Genossinnen und Genossen, im Zusammenhang sehen mit dem, was in den Abschnitten über die Grundwerte und die Grundforderungen ausgesagt wird, nämlich dass Freiheit und Gerechtigkeit einander bedingen, dass alle Völker sich einer internationalen Rechtsordnung unterwerfen, dass alle Völker die gleiche Chance haben müssen. Das gilt auch für dieses Volk, in dessen missbrauchtem Namen anderen Völkern schreckliches Unrecht zugefügt worden ist. Dem aber auch selbst Unrecht zugefügt wurde.
Und wir müssten die Aussage zur Wiedervereinigung dieses Programms im Zusammenhang sehen mit dem, was im Abschnitt über die internationale Gemeinschaft abgehandelt wird. Dort bekennen wir uns, wenn wir dieses Programm annehmen, im Sinne alter, sozialistischer und demokratischer Grundgedanken zum Selbstbestimmungsrecht und zur Gleichberechtigung aller Völker. Und wir setzen uns ein für ein Volksgruppenrecht, das im Einklang steht mit den von den Vereinten Nationen verkündeten Menschenrechten. Mit anderen Worten: Dieses Volk, in dem wir leben und für das wir politisch wirken, hat ein Recht, die Selbstbestimmung auch für sich in Anspruch zu nehmen, hat ein Recht, sich leidenschaftlich dagegen aufzulehnen, dass in diesem Teil der Welt eine neue Art von Kolonialismus errichtet wird, während die Zeit der Kolonialherrschaft in anderen Teilen der Welt zu Ende geht.
Um wenn ich dem noch ein Wort hinzufügen darf: Wir dienen unseren heimatvertriebenen Landsleuten nicht mit leichtfertigen Versprechungen und forschen Appellen. Wir treten nicht in Konkurrenz mit den Kräften, die Königsberg und Breslau im innerpolitischen Machtkampf missbrauchen und die erstaunlich schweigsam sind, wenn ihnen befreundete Regierungen anderer Länder über Grenzfragen entscheiden, über die nach internationalen Abkommen erst auf einer Friedenskonferenz entschieden werden kann.
Liebe Genossinnen und Genossen, wir bleiben dabei, so meine ich, dass wir 1. alles tun wollen, um die deutschen Menschen dort, wo sie heute leben, zusammenzuführen. Und 2., dass wir jede nur mögliche Anstrengung machen wollen, um zu möglichst gerechten Grenzen zu gelangen, das Heimatrecht und ein demokratisches Volksgruppenrecht zu Bestandteilen der internationalen Rechtsordnung werden zu lassen. Vor allem aber wollen wir, obwohl wir diesmal in Godesberg, das wir alle schätzen, tagen, uns nicht eingraben, geistig und politisch eingraben am linken Ufer des Rheins, auch nicht westlich der Elbe und der Werra. Wir wirken in diesem Teil Deutschlands, aber wir kämpfen für das ganze Deutschland. Wir wollen mit unverbrauchter Energie, über die dieser Flügel der deutschen Politik verfügt, die politische Führung dieses Staates übernehmen, und wir werden sie übernehmen. Und in uns wird lebendig sein und bleiben, was der deutsche Osten uns geistig, was er uns auch menschlich zugeführt hat. Dazu gehört auch ein stolzes Kapitel deutscher Arbeiterbewegung."
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