Liebespaar wegen Spionage zum Tode verurteilt
Am 23. September 1955 standen in einem kleinen Gerichtssaal in Ost-Berlin, Bezirk Mitte, zwei Angeklagte vor dem höchsten Gericht der DDR: Elli Barczatis und Karl Laurenz. Die beiden waren ein Liebespaar: Sie die Chefsekretärin des DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl, er ein Informant für den westlichen Geheimdienst. Elli Barczatis wusste von der Spionagetätigkeit nichts und lieferte Laurenz weitgehend belanglose Informationen im Glauben, er würde für die westliche Presse darüber berichten. Karl Laurenz war ein Anhänger der sozialistischen Idee, kam aber mit der Staatspartei SED nicht zurecht und war dadurch leicht von einem alten Bekannten "anwerbbar".
Beide Angeklagten wurden in dem eintägigen Prozess zum Tode verurteilt und drei Monaten später hingerichtet.
Die Mitschnitte des Prozesses
Das Archivradio präsentiert exklusiv den 5 ½-stündigen Mitschnitt des Strafverfahrens. Es fehlen nur wenige Passagen, u. a. die Verkündung und die Begründung des Urteils. Warum diese Teile fehlen, ist unbekannt. Beim Vergleich mit anderen Prozess-Mitschnitten aus der Zeit liegt es nahe, dass einige der vielen kurzen Bänder, die dabei im Spiel waren, mit anderen Aufnahmen überspielt wurden – um das damals sehr knappe Bandmaterial zu sparen.
Die Aufnahme war vom Ministerium für Staatssicherheit in Auftrag gegeben und ganz offen durchgeführt worden: Mikrofone standen vor dem Richter und vor den Angeklagten. Die Bänder fanden sich nach der Wende neben über 20.000 weiteren im Archiv der Stasiunterlagenbehörde BStU. Gefunden, digitalisiert und erschlossen wurden sie von den BStU-Mitarbeiterinnen Katri Jurichs und Elke Steinbach.
Das Archivradio folgt dem Prozessverlauf. Im ersten Take wird die Verhandlung eröffnet und die Angeklagte befragt, später dann der Angeklagte. Gegen Ende verliest der Staatsanwalt sein Plädoyer für die Todesstrafe. Zuletzt – und damit endet der Stasi-Mitschnitt – sprechen die Angeklagten ihre letzten Worte vor Gericht.
DDR-Strafjustiz auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges
Der Prozess zeigt die Strafjustiz der DDR auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges. DDR und Bundesrepublik waren damals sechs Jahre jung, die BRD war gerade NATO-Mitglied geworden. Die beiden deutschen Staaten trennte noch keine Mauer, aber eine Grenze, über die die Spione beider Seiten hin und her gingen.
Die Bevölkerung der DDR litt zehn Jahre nach Kriegsende an Versorgungsengpässen. Jeden Monat verließen mehr als 10.000 Menschen das Land. Politisch war die Stimmung düster: Der Aufstand vom 17. Juni 1953 war blutig niedergeschlagen worden; in diesem Zusammenhang kam der spätere langjährige Minister für Staatssicherheit Erich Mielke an die Macht. Nach Stalins Tod rechneten manche (auch viele Intellektuelle in der DDR) mit einer Entspannung, aber der starke Mann der DDR, Walter Ulbricht, setzte andere Akzente.
Karl Laurenz und Elli Barczatis
Karl Laurenz war zur Zeit des Prozesses 50 Jahre alt. Er hatte als Übersetzer gearbeitet, kurze Zeit beim Berliner Rundfunk als Redakteur, danach in einer Anwaltskanzlei. Weil er dabei Kassiber von und für Häftlinge schmuggelte, kam er in Haft. Nach der Entlassung wurden ihm alle Arbeitsmöglichkeiten in der DDR verwehrt; in dem Prozess spricht er von 100 abgelehnten Bewerbungen. Als ihn ein alter Bekannter, Clemens Laby, ansprach, ob er ein bisschen Geld verdienen möchte, war Laurenz dabei.
Elli Barczatis, zur Zeit des Prozesses 43, war Mitglied der Staatspartei SED und hatte in der jungen DDR eine steile Karriere gemacht. Anfangs Sekretärin im Energieministerium (Abteilung "Kohle") stieg sie in die Chefetage der Republik auf, ins Büro von Otto Grotewohl. Der Ministerpräsident diktierte ihr keine Geheiminformationen, wohl aber Fakten, die die DDR im Ausland hätten diskreditieren können. Sie nahm die Akten häufig mit nach Hause und zeigte sie Laurenz bei ihren Treffen in Cafés.
Die beiden hatten sich im Kohleministerium kennengelernt und pflegten, obwohl Laurenz verheiratet war, sechs Jahre eine Liebesbeziehung. Die beiden gingen, was ihnen im Prozess zur Last gelegt wurde, gern in Westberlin einkaufen und ins Kino. Seit Laurenz mit Spionageaufträgen begonnen hatte, machte er Barczatis Geschenke.
Aus dem bei der Verhaftung im März 1955 beschlagnahmten Notizheft der Angeklagten:
4.9.1949 Vormittag DWK erster Kuss von Laurenz
10.9. Birkenwerder erstes Mal zusammen mit Karl Laurenz
11.10. Karl Laurenz
13.10. Laurenz
19.10. Film Achtung „Grün“ und Karl Laurenz in seinem Zimmer angehört
17.11. Frage ob ich mit nach Moskau gehen will
Elli Barczatis Schwester Hertha schrieb am 8. Januar 1953 an eine dritte Schwester (der Brief wurde von der Stasi abgefangen und abgeschrieben):
"Eine betrübliche Sache wollte ich Dir vor den Feiertagen nicht mitteilen: Elli hat nur auf Mutters Tod gewartet, um den Laurenz, diesen verheirateten Strolch, in die Wohnung zu holen. Sie könnten ja ihre Ehebrüche wo anders machen (und nicht vielleicht auf dem Lager, wo Mutter ihren letzten Atemzug getan hat), ich kann Elli nicht halten, wenn sie ihren Verstand im Hintern hat, aber sie sollte wenigstens das Haus von diesem Kerl sauber halten. Von allen ehemaligen Kollegen höre ich immer wieder, daß der Laurenz keinem sympathisch ist und er einen undurchsichtigen Eindruck macht. Ins Haus brauchte Elli den Schweinekerl wirklich nicht zu bringen. Wenn ich ihn mal antreffe, gehe ich mit dem Feuerhaken auf ihn los. Das Gesundheitsamt hat mich für Januar und Februar eine höhere Lebensmittelkarte bewilligt. Herzliche Grüße Deine Hertha."
Elli schrieb diesem Zusammenhang an ihre Schwester Hertha:
"Liebe Hertha,
Es ist mir wirklich vollkommen neu, daß ich Dich erst um Erlaubnis fragen muss, mit wem ich meine Freizeit verbringen darf. Wenigstens war das Zusammensein mit Herrn Laurenz, einem geistig sehr hoch stehendem Menschen stets eine sehr angenehme Unterbrechung meines sonst nicht gerade ideal schönen Lebens.
Ich möchte nur bemerken, daß Herr L. nicht besser und nicht schlechter ist als die meisten anderen. Der eine Unterschied besteht vielleicht darin, daß es die einen heimlich tun und nach außen den moralisch einwandfrei Dastehenden markieren, daß die anderen sich für jeden Tag eine andere Freundin suchen und die Dritten ehrlich zu ihrem Handeln stehen.
Daß diese Art Freundschaften früher oder später einmal zu Ende gehen, ist mir bekannt, und dass mir als tief empfindenden Menschen dieses Auseinandergehen stets schwer fallen wird, darüber bin ich mir auch im Klaren."
Von der Stasi beobachtet
Die Stasi erhielt 1950 den Tipp einer Kollegin von Laurenz und Barczatis aus dem Energieministerium, dass sich der als Frauenheld bekannte Mann konspirativ mit Frau Barczatis in Cafés traf. Ohne den Hauch eines Verdachts begann die Staatssicherheit mit der Beschattung beider. Typischer "Beobachtungsbericht" eines informellen Mitarbeiters (IM):
Betrifft: Beobachtung der Nr. 1 am 8.2.1951
16.50 Uhr: Beginn der Beobachtung.
18.45 Uhr: Ministerpräsident Grotewohl besteigt seinen Wagen und verläßt seinen Amtssitz.
18.55 Uhr: Nr. 1 verläßt den Amtssitz und geht durch folgende Straßen: Prinz-Albrecht-Straße, Stresemannstr., S-Bahnhof Potsdamer Platz.
19.05 Uhr: Nr. 1 besteigt den Zug in Richtung Stahnsdorf, da nächste Station Westsektor, wurde die Beobachtung abgebrochen.
Bekleidung der Nr. 1:
schwarzer Hut, schwarzer Mantel, schwarze Halbschuhe. linke Hand: braune Lederhandtasche, rechte Hand: blaue Einholetasche mit Inhalt.
Häufig endete die Beschattung wie hier, als das Pärchen nach Westberlin fuhr. Es konnte den beiden nichts nachgewiesen werden – auch nicht durch die Telefonüberwachung:
Telefonüberwachung. Hauptabteilung S. Informator Anna berichtet, daß am 7.12.1954 um 14.15 Uhr folgende Unterhaltung zwischen einem Herrn und einer Dame stattgefunden hat:
Nachdem sich der Herr und die Dame begrüßt haben fragt der Herr die Dame wie es ihr geht. Die Dame antwortet ihm, daß sie ein bißchen emsig ist. Sie fragt ihn ob er nicht zu viel arbeitet. Die Dame sagt, Na weißt du Pumpelchen, was ihr so aus den Frauen macht. Es wären schlecht Männerchen. Er sagt ihr, daß er sehr viel geschrieben hat. Sie verabschiedet sich von ihrem Bummelchen und bittet ihn noch einmal, daß er nicht so viel rauchen soll, damit er ihr nicht das ganze Haus verräuchert. Sie bittet ihn noch darum, daß sie ein Stück Schokolade essen möchte. Er sagt ihr, daß sie doch noch welche hat und verabschiedet sich dann von ihr.
Die Pinselhaare sind weg: eine Falle für Elli Barczatis
Überführt wurde Elli Barczatis, weil man ihr eine Falle stellte:
Abschrift. Berlin, den 11.11.1954
Wie vereinbart wurde am Montag von mir ein großer Briefumschlag fertig gemacht. Die Anschrift lautete Min. f. Aussen und Innerdeutschen Handel zu Händen des pers. Referenten Gen. Albrecht. Inhalt: Durchschriften über den Stand der Exportaufträge 1953. Auf die 3. Seite hatte ich 3 gelbe Pünktchen aus einem Locher gelegt. Auf der Rückseite des Umschlages hatte ich ein Haar vom Leimpinsel angeklebt. Am Briefverschluß war ebenfalls ein kleines Pinselhaar mit eingeklebt worden. An der Seite schaue es ein kleines Stückchen heraus. Auf der Vorderseite des Umschlages befand sich unter dem t. des Wortes Minister ein schwarzer Punkt über den s. des Ministers ebenfalls.
Am Montagabend als die Genossin Barczatis sich schon auf dem Gang befand, rief ich sie zurück und sagte ihr, daß im Panzerschrank ein Brief mit wichtigen Unterlagen für Minister Gregor liegt, betrifft Auftragslage, die nur gegen Unterschrift von Gen. Albrecht herauszugeben sind.
Am Donnerstagmorgen kam ich 8.45 Uhr im Sekretariat an. Der Panzerschrankschlüssel wurde mir von der Gen. B. überreicht. Der Panzerschrank war schon geöffnet gewesen. Ich betrachtete mir sofort den Umschlag, die 2 Pinselhaare waren weg. Die schwarzen Punkte ebenfalls. Die Anschrift war neu geschrieben mit 2 Tippfehlern, die in der ersten Anschrift nicht enthalten waren. Es mußte also ein neuer Umschlag angefertigt worden sein.
Gleichzeitig hatte ich auf einem Brief an den Gen. Molotow, der sich mit anderen Unterlagen in einem Aktendeckel im Panzerschrank befand, ein schwarzes Haar gelegt, auch in dieser Mappe war das Haar verschwunden.
In der vergangenen Woche kurz vor Dienstschluß habe ich das Zimmer der Gen. B. betreten und wollte ihr etwas mitteilen. Sie packte gerade ihre Tasche und sagte: „Ach ich bin schon ganz vergesslich, die Zeitung wollte ich einstecken und habe aus Versehen einen Teil der Wiedervorlage erwischt.“ In meinem Beisein nahm sie dann die Briefe d. h. nach ihrer Aussage die Wiedervorlage, aus ihrer Einkaufstasche heraus.
gezeichnet: Lina
Festnahme
Auch damit hatte das Ministerium für Staatssicherheit keine Anhaltspunkte für Spionage. Drei Monate später, am 4. März 1955, entschloss man sich dann doch dazu, die beiden festzunehmen:
Festnahmebericht
Barczatis, Elli
Die B. wurde vor ihrer Dienststelle aufgenommen und zwischen Friedrich-Straße und Französische Straße durch den Genossen Berge angesprochen. Sie leistete keinen Widerstand und bestieg sofort das Auto. Sie wurde in die VP-Inspektion Lichtenberg gebracht.
(Unterschrift:) Werner, Sachbearbeiter
Geständnisse in der Untersuchungshaft
In der Untersuchungshaft gestanden die beiden, vermutlich unter psychischer Folter (Schlafentzug, Drohungen), einiges mehr, als sie getan hatten. Den Strafprozess leitete Walter Ziegler, ein Richter, der in der jungen DDR mehrere Todesurteile fällte.
Aus Geheimhaltungsgründen war die Öffentlichkeit ausgeschlossen, im Gerichtssaal befanden sich fast nur Stasi-Mitarbeiter. Auf Verteidigung hatten die Angeklagten angeblich verzichtet; bei anderen Strafprozessen aus der Zeit gab es Verteidiger, die jedoch allesamt im Sinne der Staatsanwaltschaft argumentierten. Der Staatsanwalt in diesem Prozess war Wolfgang Lindner.
Die Anklage lautete: Spionage für den Westen, "Boykotthetze" nach Artikel 6 der DDR-Verfassung. Für dieses Vergehen war lebenslängliches Zuchthaus oder die Todesstrafe vorgesehen.
Es gibt einen Vermerk vom Minister für Staatssicherheit Erich Mielke, der auf lebenslänglich plädiert. Warum Elli Barczatis und Karl Laurenz dennoch zum Tode verurteilt wurden, ist unklar.
Das Urteil
Vollstreckung der Todesurteile
Der Prozess endete kurz vor Mitternacht. Drei Monate später wurde das Urteil vollstreckt:
Hörbuch
Zu diesem Prozess gibt es ein auf diesen Originaltönen basierendes Hörbuch: "Fallbeil für Gänseblümchen", Christoph Merian Verlag 2012. Die Bezeichnung "Gänseblümchen" stammt vom Vorgänger des Bundesnachrichtendiensts, der Organisation Gehlen. Die führte Barczatis unter diesem Decknamen als Spionin für den Westen, ohne dass sie davon eine Ahnung hatte.