1) Wie war es für Dich mit einer Langform wie dem Hörspiel oder auch Hörstück zu arbeiten?
Ich fand es sehr spannend so ein langes Format zu füllen. Das erfordert schon eine spezielle Herangehensweise. Ich habe auf zwei Ebenen gearbeitet. Zum einen innerhalb der vielen kleinen Mikroformen, also der Detailarbeit eines Arrangements, andererseits aber dann immer wieder ganze Szenen wie bei einem Filmschnitt verschoben und zueinander in Beziehung gesetzt. Es war immer wieder notwendig nur mit dem Blick auf das Große und Ganze, eigentlich mit einem Blick von außen, als wäre ich nicht derjenige der in der ganzen Detailarbeit drinnensteckt, die ganze Form durchzuhören. So und mithilfe schriftlicher Pläne, tastete ich mich langsam an die große Form heran. Im Endeffekt hätte es nun viele Möglichkeiten gegeben die verschiedenen Einzelteile wie ein Puzzle zusammenzusetzen, und es gab tatsächlich viele alternative Versionen, in denen Teile vorkommen die in der jetzigen Version nicht mehr zu hören sind. Hier gibt es nicht die einzige und richtige Version. Eigentlich gibt es hier keinen Anfang und kein Ende sondern ein potenzielles Kontinuum an ständig wieder und wieder Auftauchdem, neu Dazukommenden und Verschwindendem.
2) Wie bist Du auf das Thema mit den "fantômes" oder "Gespenstern" gekommen?
Ich beschäftige mich seit Jahren mit Strukturen die über Erinnerung und Wiederholung funktionieren, mit Gebilden und Gestalten die immer wieder auftauchen. Ein Beispiel aus der Musikgeschichte ist die musikalische Form der Fuge. Ein Thema wird vorgestellt, dann taucht es im Bass wieder auf, anschließend im Sopran, dann in zeitgedehnter oder umgedrehter Form wieder und wieder. Mein Bruder Peter Brandlmayr, der jahrelang sehr interessante Projekte im Grenzbereich zwischen Kunst und Wissenschaft realisierte, und der sich mittlerweile auf eine theoretische und praktische Aktualisierung dessen was uns historisch als traditionalistisch geprägte Pataphysik entgegentritt spezialisiert hat, machte mich auf Jacques Derrida aufmerksam, und dessen Auseinandersetzung mit "Gespenstern". Ich entdeckte, dass vieles an wiederkehrenden Strukturen in der Musik, von den wiederauftauchenden Gestalten im allgemeinen, sich über Begriffe bzw. über eine Bildsprache im Derrida´schen Sinne benennen lassen kann. Wir sind, als Teil einer Realität, die nicht endgültig fassbar ist, ständig von "Gespenstern" umgeben. "Vive les fantômes" ist also als Aufruf gemeint, in einer Gesellschaft die tendenziell versucht alles Uneindeutige oder Unzuordenbare auszublenden oder an den Rand zu drängen, all diese von uns verdrängten mehrdeutigen Schwellenwesen mitten im Leben willkommen zu heißen, sich lustvoll mit ihnen zu beschäftigen und gemeinsam mit ihnen umzugehen.
3) Der französische Schriftsteller, Fotograf und Dokumentarfilmer Chris Marker hat mit seinen Filmen "Sans Soleil" und "La Jetée" viele Musiker und Komponisten inspiriert. Welche Rolle hat er für Dich bei diesem Stück gespielt?
Mit meiner Gruppe "Radian" hatte ich schon 2014 zu Chris Marker´s "La Jetee" einen Livescore mit Sprecher erarbeitet. Auch hier geht es um Erinnerungen, ein Verwirrspiel, ein Verwischen der Zeiten.
In "Sans Soleil" taucht unter anderem auch Alfred Hitchcock´s "Vertigo" auf, ein Film der wiederum mit der Verschiebung von Zeiten und Realitäten arbeitet. Der fiktive Kameramann aus "Sans Soleil" besuchte alle Originalschauplätze des Filmes, in dem Scotty (James Steward) wieder und wieder an die Orte seiner Erinnerungen zurückkehrt. Es ist also eine mehrfache Verschachtelung von Zeiten, Erinnerungen und subjektiven Einfärbungen realer und fiktiver Personen.
Als ich letztes Jahr mit "Radian" auf Tour war und in San Francisco Halt machte, besuchte ich auch einen Originalschauplatz von "Vertigo", die Mission Dolores. Ich nahm dort und auf dem Weg dorthin einige Fieldrecordings auf, einiges davon findet sich nun in diesem Hörspiel wieder.
Schleifen faszinieren mich – immer wieder an die selben Orte zurückzukehren (als reale oder imaginierte Reise) die selbe Musik zu hören, den selben Film anzusehen, zu sehen wie sich Orte verändern, wie sich die Musik verändert, wenn sie in unterschiedlichen Räumen gespielt wird, wie sich ein Stück verändert, jedes Mal, wenn es wieder aufs neue interpretiert wird. Ein lebendiger Prozess. Alles entsteht immer wieder aufs Neue und in neuer Gestalt.
4) Wie war das Gefühl mit Größen wie Miles Davis, Thelonious Monk oder Billie Holiday "gemeinsam zu spielen" (oder mit deren Aufnahmen zu spielen)?
Es war unglaublich spannend mich mit diesen Aufnahmen so intensiv zu beschäftigen, sie genau zu betrachten, zu analysieren, zu prozessieren, und etwas Neues daraus zu bauen. Ich fand es sehr spannend Miles Davis und Thelonious Monk virtuell nochmal zusammenkommen zu lassen. Meiner Information nach hat das ja bei ihrer einzigen gemeinsamen Aufnahme nicht so super geklappt. Miles Davis war glaube ich mit Monk´s Begleitstil nicht einverstanden. Hier stehen sie gleichwertig nebeneinander. Jeder ein eigenes Universum für sich – aber die Universen Interagieren.
Ich näherte mich als Fan und Bewunderer. Mit ihnen dann wirklich virtuell zu spielen war etwas ganz besonderes. Mein Part ist eher ein ergänzender, Zwischenräume füllender, kommentierender.
Am Anfang in der langen Passage, in der fast nur ausschließlich Material aus "Live at the Fillmore East" geschnitten ist, spiele ich dann auch wirklich richtig mit. Es war schon ein bisschen wie eine Zeitreise ins New York der beginnenden 1970er und mit dabei zu sein im Fillmore East als Teil dieser fantastischen Band.
5) Welche Rolle spielt für Dich der O-Ton und die Fieldrecordings im Stück?
Die Fieldrecordings sind in der Zeit "gefrorene" Bewegung. Ich habe sie als musikalisches Material behandelt, Frequenzen, Rhythmen, Klang. Das weiße Rauschen der Straßengeräusche, Melodien der menschlichen Stimmen der Passanten, Akzente der Schritte. Ich habe in der Herangehensweise im Schnitt, im Editieren und Arrangieren generell keinen Unterschied gemacht, ob das nun O-Ton, Musik oder die Tonaufnahme einer Straßenkreuzung ist. Alles ist eine Ansammlung von Frequenzen, Rhythmen, ein Anschwellen und Abschwellen von Klängen.
Diese Klangobjekte habe ich neben einem Editierungsprozess auch instrumental ergänzt. Die Akzente der Schritte, das Rattern der über Fliesen rollenden Koffer vermischen sich mit den Akzenten der Trommeln, Das Beserlwischen auf der Snaredrum mit dem Rauschen der Straßengeräusche etc...
Andererseits handelt es sich hier aber auch um Assoziationsräume. Konkrete Klänge die an Erinnerungen gekoppelt sind, meine eigenen persönlichen, weil ich tatsächlich zu der Zeit vor Ort war, aber – dadurch dass es bekannte und identifizierbare Klänge sind – auch für die Hörerinnen und Hörer, die wiederum ganz andere Assoziationen, innere Bilder erleben.
Ähnliches gilt für die O-Töne. Sie sind zugleich sprachlicher Inhalt, andererseits musikalische Form. Insbesondere Probesituationen interessierten mich bei der Arbeit für dieses Hörspiel. Situationen in denen über Musik gesprochen wird, über Musik die erst in der Zukunft erklingen wird. In der Vorstellung der Spieler existiert sie schon, sie speist sich aus Erfahrenem, also Vergangenem. Es wird ein Plan entworfen. Der weist in die Zukunft. Das fand ich inhaltlich interessant. Im Schnitt der Aufnahmen ergibt es sich so, dass das Sprechen und das instrumentale Spiel eins werden zu einer musikalischen Gestalt. Das eröffnet beim Hören ein Spannungsfeld oder eine Irritation, weil Sprache anders wahrgenommen wird als das Spiel eines Instrumentes.
In "Vive les fantômes" kommen viele menschliche Stimmen vor. Die Stimmen bekannter Personen wie Miles Davis, Thelonious Monk, Billie Holiday, Jacques Derrida, die Filmstimme von Alexandra Steward aus "Sans Soleil" und viele unbekannte Stimmen von Menschen, die gerade, wie es der Lauf der Zeit so will, am selben Ort waren als ich mit dem Fieldrecorder Aufnahmen machte. All diese Klanggestalten erscheinen uns als Wiedergänger einer vergangenen Zeit.
Die Stimmen der Bauarbeiter nahe der Mission Dolores, Passanten an der Kreuzung 16th St Mission, Passagiere in der Metro, all diesen Stimmen ist gemein, dass sie nur äußerst bruchstückhaft verstanden werden können, weil sie aus der Entfernung oder der Bewegung heraus aufgenommen wurden. Meistens ist nur eine Sprachmelodie zu erkennen, eine Aneinanderreihung von Silben. Eine unbekannte Sprache, mehr Klang als sprachlicher Inhalt.
Generell noch zu Bewegung. Ich bewege mich mit dem Fieldrecorder in der Zeit von A nach B, und in dieser Zeit nehme ich die Klänge um mich herum auf, vorbeigehende Menschen, ein ratterndes Fahrrad, eine Vielheit an Fahrzeugen, die sich in unterschiedliche Richtungen bewegen. Die Klangquellen bewegen sich also wiederum um mich herum. So entsteht ein komplexes Klanggebilde, das Bewegung in der Zeit, und so Zeit selbst spürbar macht.
Die Fragen stellte der Hörspieldramaturg Frank Halbig.