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Sensationell: Das Mahler Academy Orchestra spielt Mahlers Neunte im Originalklang

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Autor/in
Christine Lemke-Matwey
Christine Lemke-Matwey

Die historisch informierte Aufführungspraxis ist eine Erfindung des mittleren 20. Jahrhunderts. Gustav Mahler wäre nie auf die Idee gekommen, alte Musik mit alten Instrumenten aufzuführen. Genau das tun der Dirigent Philipp von Steinaecker und das Mahler Academy Orchestra jetzt im Rahmen ihres „Originalklang Projekts“ mit seiner Neunten – und es ist eine Entdeckung.

Neueinspielung hätte zehn Sterne verdient

Mahlers Neunte, die gern als Vermächtnis gespielt und gehört wird, als Weltabschiedswerk, uraufgeführt 1912, gibt es nun in einer sensationellen Neueinspielung, die für meine Ohren zehn Sterne verdient hätte – schade, ich aber nur fünf vergeben kann.

Ich weiß nicht, ob es auch daran liegt, dass ich lange keinen Mahler mehr gehört habe; man hat ja so seine Konjunkturen. Diese Aufnahme aber des Mahler Academy Orchestra unter Philipp von Steinaecker macht mich sofort wieder zu der Mahlerianerin, die ich einmal war.

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Gespielt wird auf historischen Instrumenten

Mehr noch: Sie bringt mir bei allem Katastrophen- und Verzweiflungston, der die Neunte beherrscht, vor allem ihre lichten, hellen Momente nahe. Das liegt an den flüssigen Tempi der Interpretation und an den historischen Instrumenten, auf denen die Musiker spielen. 

Das Mahler-Orchester klingt wie ein lebendig aufgewühlter Organismus.

Darmsaiten und Holzdämpfer für die Streicher, andere Bauweisen und Materialen für die Bläser, Holz und Blech – schon klingt das Mahler-Orchester wie ein lebendig aufgewühlter Organismus.

Was man zu Beginn des zweiten Satzes, des Ländlers, sehr schön hört: wie sehr die einzelnen Instrumente ins Risiko gehen, was es sie kostet, diese für uns heute so selbstverständliche Musik zu spielen. 

Interpretation setzt neue Maßstäbe

Philipp von Steinaecker war Assistent von Claudio Abbado und hat viel Alte Musik gemacht. Auch das Mahler Academy Orchestra geht auf Abbado zurück, sitzt in Bozen und tritt meist in Toblach auf, wo Mahler unter Anderem seine Neunte schrieb.

Die Interpreten nehmen es mal eben mit der Mahler-Diskografie auf.

Diese Interpreten nehmen es mal eben mit der Mahler-Diskografie auf – von Bruno Walter bis Mariss Jansons, vom Concertgebouw Orchester bis zu den Wiener Philharmonikern. Chapeau!

Philipp von Steinaecker
Der Dirigent Philipp von Steinaecker war Assistent von Claudio Abbado und hat viel Alte Musik gemacht.

Naturlaut und Sinnlichkeit

In der ganzen Welt wurden Instrumente aus Mahlers Zeit in Wien für diese Aufnahme gesammelt. Und was die Bläser an Naturlaut und Sinnlichkeit bieten, das können die Streicher auch. Herrlich, diese schleifenden Lagenwechsel! Und so viel Mut zum Rubato!

Der letzte Satz, das Adagio, ist eine Musik, die sich strukturell selbst auflöst, was von Steinaecker und das Mahler Academy Orchestra sehr toll nachvollziehbar machen: klar, luzide und vor allem vollkommen unsentimental.

Alle Choräle und Vanitas-Motive, alle Zitate eigener Werke sind nur Mittel, ist „nur“ Kunst, um den Glauben an eine bessere Welt nicht ganz zu verlieren.

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