Johannes Brahms nannte seine 1892 komponierten Intermezzi op. 117 die „drei Wiegenlieder meiner Schmerzen“. Die Miniaturen sind in ihrer beinahe schon impressionistischen Gestaltungsweise von tiefem Ernst durchzogen und zeugen von der Vereinsamung des Komponisten in zunehmendem Alter.
Die Stücke bewegen sich vorwiegend im Piano- und Pianissimo-Bereich, die Themen zeigen einfachen, bisweilen volksliedhaften Charakter.
Die Klavierstücke op. 117 gehören mit denen aus op. 116, 118 und 119 zu den letzten Sammlungen, die Brahms dem Instrument gewidmet hat. Überraschend ist hierbei vor allem Brahms‘ Hinwendung zur „kleinen Form“, die aber mit einer nochmaligen Steigerung des musikalischen Ausdrucks verbunden ist.
Clara Schumann als heimliche Widmungsträgerin
Die vorherrschende Stimmung ist zutiefst melancholisch, entsprechend einem musikalischen Nachsinnen über eine fast vierzigjährige, weitgehend unerfüllte Liebe und Freundschaft, die Clara Schumann und Brahms verband.
So hielt Clara Schumann die Intermezzi nach dem ersten Durchspielen für technisch nicht allzu schwer, doch erkannte sie auch zugleich das Besondere dieser kleinen Stücke: „die geistige Technik darin verlangt ein feines Verständnis und man muss ganz vertraut mit Brahms sein, um sie so wiederzugeben, wie er es sich gedacht.“
Ein schottisches Volkslied als Motto
Große Popularität erlangte das volksliedhafte erste der Stücke, dem der Komponist die Verse „Schlaf sanft, mein Kind, schlaf sanft und schön! / Mich dauert’s sehr, dich weinen sehn“ aus Johann Gottfried Herders Gedicht-Sammlung Stimmen der Völker voranstellte. Dieses von Herder übersetzte, ursprünglich schottische Volkslied wird bei Brahms zum Wiegenlied von wehmütigem Abschiedsschmerz („Wiegenlied einer unglücklichen Mutter“).
Die eingängige, vielfach variierte Melodie in mittlerer Stimmlage bewegt sich innerhalb eines Oktavintervalls mehrmals sanft auf und ab. Der Mittelteil in es-Moll verwendet kurze Motive aus der Anfangsmelodie wie Bruchstücke und verändert sie zu ausdrucksstarken Seufzern.
Den wohl geplanten Versuch des Bonner Verlegers Simrock, das Stück als „Wiegen-oder Schlummerlied“ separat zu publizieren, lehnte Brahms ab.
Monologe eines Einsamen
Das zweite Intermezzo in b-Moll ist formal und harmonisch das kunstvollste. Aus einer durchgehenden 32stel-Kette bilden sich die Spitzentöne zu einer sehnsuchtsvollen Melodie im 3/8tel-Takt heraus. Eine variierte Reprise lässt dieses arabeske Thema wie aus großer Entfernung nachklingen.
Das abschließende cis-Moll-Intermezzo beginnt mit einem einfachen, überwiegend aus Sekundschritten bestehenden Unisono-Thema (in drei Oktaven). Es ist eines der melancholischsten und zugleich schönsten späten Klavierstücke von Brahms.
Eine Liebesklage?
Vermutlich liegt auch diesem Intermezzo ein von Herder übersetztes schottisches Gedicht zugrunde (auch wenn Brahms keine konkreten Angaben hinterließ), nämlich eine als „O weh! O weh, tief im Tal“ übersetzte Liebesklage. Auch das Aufgreifen von thematischem Material aus dem ersten Intermezzo ist eine inhaltliche Weiterführung des anfänglichen schmerzlichen Wiegenliedes.