SWR2 Musikstück der Woche vom 18.11.2013

Stahl und Gold

Stand
Autor/in
Doris Blaich

Sergej Rachmaninow: Etudes-tableaux op. 39

Rachmaninows Bild-Etüden gehören zu den großen Brocken der Klavierliteratur. Sie verlangen viel pianistische Kraft vom Interpreten, aber auch Gespür für die zarten Zwischentöne und die Pastell-Farben der Musik. Beides bringt Boris Giltburg mit, der sich dieses Jahr beim Reine-Elisabeth-Wettbewerb in Brüssel die Goldmedaille erspielte. Für sein Konzert in der SWR-Reihe "Internationale Pianisten in Mainz" im November 2011 wählte er drei dieser Etüden.

"Rachmaninow", so schrieb ein Zeitgenosse, "war geschaffen aus Stahl und Gold: Stahl in seinen Armen, Gold in seinem Herzen". Gold hielt Rachmaninow auch in seinen Händen – zum Abschluss seiner Ausbildung. Das Moskauer Konservatorium zeichnete ihn 1892 mit der Großen Goldmedaille für Klavier und Komposition aus und man prophezeite ihm auf beiden Gebieten eine große Karriere.

Die entwickelte sich dann auch gut, aber – wie in vielen Künstlerbiographien – mit einigen Zickzack-Wendungen und Einbrüchen: So geriet Rachmaninow durch den Misserfolg seiner 1. Sinfonie in eine tiefe seelische Krise. Und ebenso verstörend und lähmend wirkte die russische Oktoberrevolution auf ihn. Über Paris floh er 1917 in die USA und wirkte dort zehn Jahre lang ausschließlich als Pianist und Dirigent, bevor er wieder den Kompositionsstift in die Hand nehmen konnte. Seine geliebte russische Heimat sah er nicht wieder.

Im Aufbruch komponiert

Die Etudes-tableaux op. 39 entstanden unmittelbar vor Rachmaninows Flucht. Es sind die letzten Werke, die er noch in Russland schrieb. Die Bezeichnung Etudes-tableaux (Bilder-Etüden) stammt von Rachmaninow selbst. Sie steht für eine Mischung aus virtuoser Konzertetüde und bildhafter Tondichtung. Neun Etüden hat Rachmaninow als sein Opus 39 veröffentlicht (drei davon bilden unser Musikstück der Woche).

Zunächst lieferte Rachmaninow keine konkreten Untertitel oder programmatische Hinweise für diese Stücke. Doch einige Jahre nach ihrer Entstehung bearbeitete der italienische Komponist Ottorino Respighi eine Auswahl der Etudes-tableaux für großes Orchester. Rachmaninow wandte sich in einem Brief an Respighi: "Erlauben Sie mir, Maître, Ihnen die geheimen Erklärungen ihres Komponisten zu geben? Gewiss werden sie den Charakter dieser Stücke verständlicher machen und Ihnen helfen, die erforderlichen Farben für die Orchestrierung zu finden ... Die erste Etüde in a-Moll [op. 39,2] stellt die See und Seemöwen dar. Die zweite a-Moll-Etüde [op. 39,6] wurde durch die Geschichte von Rotkäppchen und dem Wolf inspiriert..."
In allen Etüden klingt das "Dies Irae" des Requiems durch: die gregorianische Melodie der lateinischen Totenmesse, in deren Text es um die Qualen und Ängste des Jüngsten Gerichts geht. Teilweise ist die Dies Irae-Melodie im Klaviersatz verborgen, an manchen Stellen erscheint sie klar und deutlich.

Musik, die Tochter der Schwermut

Stahl und Gold: diese Legierung der Extreme trifft auch für Rachmaninows Tonsprache in den Etudes-tableaux zu: sie ist nie lauwarm, sondern immer entweder siedend heiß oder eisig kalt – extrem emotional eben (und darum in ihrer Wirkung oft polarisierend: Was die einen als aufwühlend und berührend-schön empfinden, ist für die anderen leeres Virtuosengeklingel oder gar Kitsch). Rachmaninows Antwort auf die Frage "Was ist Musik?" könnte (obwohl Jahre später formuliert) in ihrer poetischen Bildersprache auch ein direkter Kommentar zu diesen Klavierstücken sein: "Was ist Musik?! Eine ruhige Mondnacht; Das Rauschen der Blätter; Entferntes Abendläuten; Das, was von Herz zu Herz geht; Die Liebe; Die Schwester der Musik ist die Poesie – ihre Mutter: die Schwermut!"

Boris Giltburg, Klavier

Der israelische Pianist Boris Giltburg hat es in den letzten Jahren geschafft, weltweit und kontinuierlich die Aufmerksamkeit eines immer weiter wachsenden Publikums auf sich zu ziehen, da er wie wenige andere der jungen Pianisten-Generation über das Maß an Musikalität, Persönlichkeit und Durchdringung der Musik verfügt, das ihn von der bloßen technischen Perfektion abhebt. Boris Giltburg wurde 1984 in Moskau geboren. Mit fünf Jahren erhielt er ersten Klavierunterricht bei seiner Mutter. Von Kindheit an lebt er in Tel Aviv, wo er bei Arie Vardi studierte.

Mehrfach ausgezeichnet

Boris Giltburg wurde bei etlichen internationalen Wettbewerben mit Preisen ausgezeichnet, namentlich in Santander, wo er 2002 für seine Interpretation von Bartóks drittem Klavierkonzert mit dem London Symphony Orchestra unter Rafael Frühbeck de Burgos den ersten Preis sowie den Premio de público Sony gewann. Beim Arthur Rubinstein Klavierwettbewerb 2011 in Tel Aviv belegte er den zweiten Platz und erhielt den Sonderpreis für die beste Interpretation eines klassischen Konzerts mit Beethovens zweitem Klavierkonzert. Im Juni 2013 gewann er den ersten Preis beim renommierten Wettbewerb Reine Elisabeth in Brüssel.

Der "American Record Guide" bescheinigte Giltburg 2007: "… ruhige und überzeugte Aufmerksamkeit hat er für die Musik parat. Die Ergebnisse sind etwas Besonderes. Giltburg spielt wie der junge Richter." Boris Giltburg konzertiert auf den wichtigsten Bühnen Europas.

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Doris Blaich