Eine massige Lokomotive fährt qualmend in den Bahnhof ein. Der gewaltige Tross braucht gut eine halbe Minute, ehe er endlich zum Stehen kommt. Der Kurzfilm der Brüder Lumière von 1895, der diese Szene zeigt, hat in der Kinogeschichte einen legendären Ruf. Denn die Zuschauer sollen vor dem dynamischen Stahlross in Panik aus dem Saal geflohen sein.
Bei einer Aufführung von Franz Schuberts Streichquartett in G-Dur wird so etwas Dramatisches wohl seltener passieren, und doch bricht auch hier binnen Sekunden schier Ungeheuerliches herein.
Bittersüße Wucht
Der erste Klang scheint aus dem Nichts zu kommen. Als Zuhörer weiß man noch gar nicht, wie man den langsam anschwellenden G-Dur-Akkord deuten soll: Ist er der Beginn einer Melodie, ist es eine Begleitung, klingt die Musik empathisch oder melancholisch? Dann gibt es einen Ruck, die Szene kippt unerwartet in grelles Moll um – und das mit einer furiosen Geste, die selbst Beethoven imponiert und kaum ein Komponist vor Schubert gewagt hätte.
Neue Art Musik zu denken
Nach einem melancholischen Neubeginn unter zittriger Tremolo-Begleitung schwankt das Hauptthema zwischen den Tonarten, scheint sich mit unglaublichem Kraftaufwand immer wieder aus sich selbst aufzubauen. Es folgt noch ein verinnerlichter Tanz, der in seiner Entrückung so typisch für Schuberts Stil ist. Wie im Filmschnitt folgen stärkste Kontraste auf engem Raum und zeigen damit unmissverständlich: Hier bricht sich eine neue Art, Musik zu denken und vor allem zu fühlen, mit Wucht ihre Bahn.
Das Apollon Musagète Quartett
Interpretiert hat unser Musikstück der Woche das Apollon Musagète Quartett 2016 bei den Schwetzinger SWR Festspielen. Es ist auch dieses Jahr am 8. Mai wieder in Schwetzingen zu Gast. Dieses Mal mit Werken von Mozart und Grieg.