Litauens musikalischer Nationalheld
Wie passiert es, dass ein Künstler zum Nationalhelden aufsteigt? Das kommt auf die Umstände an, auf die Zeit und auf die Nation. Die Zeit, ist das ausgehende 19. Jahrhundert, die Nation das unter russischer Herrschaft stehende Litauen.
Mikalojus Konstantinas Čiurlionis wird dort 1875 geboren. Schon früh erlernt er das Klavierspiel in seinem Elternhaus und auch in der Malerei zeigt der Junge eine außergewöhnliche Begabung.
Aufgewachsen in einer ländlichen Umgebung zieht es Čiurlionis immer wieder in die Wälder. Die Lieder der einfachen Leute handeln von ihnen wie die uralten Erzählungen des litauischen Sagenschatzes. Die tiefe Verwurzelung in der Natur spielt in Litauen bis heute eine wichtige Rolle. Der Maler und Komponist verleiht ihr in seiner Kunst besonderen Ausdruck.
Aus dem Baltikum in die Welt
Für seine Heimat beginnt sich der junge Mann erst wirklich zu begeistern, als es ihn zum Studium nach Warschau und später nach Leipzig zieht. In den Erinnerungen an die Natur seiner Heimat sucht Čiurlionis, den in Deutschland zunehmend das Heimweh plagt, Inspiration.
So trägt eines seiner ersten Werke für Orchester den Titel „Miške“ – im Wald. Eine Komposition, die von den uralten Mythen um die tiefen litauischen Wälder inspiriert ist.
Auch Klaviermusik schreibt der junge Musiker, etwa die Sonate VL 155, die als erstes litauisches Klavierwerk überhaupt gilt.
Ein radikaler Nationalist war Čiurlionis nicht. Er zieht sich lieber in seine Kunst zurück. So experimentiert er mit Klangfarben, expressionistischen Methoden und sucht neue Wege zur Kunst – und zu sich selbst. Die für die Spätromantiker allzu typischen Melodien einfacher Volkslieder greift er zwar ebenfalls auf, vermengt sie aber mit neuen harmonischen Ideen.
Zwischen Malerei und Musik
In den Farben fand der Komponist ebenso ein Zuhause wie in den Klängen. Seine Gemälde, die er oftmals als „Sonaten“ bezeichnet, strahlen eine tiefe Naturverbundenheit aus. Die rauen Winter des Baltikums und die langen Sommertage finden Einklang in seinen Bildern, die abstrakt und doch fantastisch wirken.
Als Maler feiert er ab 1900 erste Erfolge. Seine Gemälde werden in Polen und Russland ausgestellt. Zuhause gründet er mit anderen litauischen Malern und Musikern die erste Künstlergruppe seines Landes. Der ganz große Durchbruch jedoch gelingt ihm zu Lebzeiten nicht. Große Teile seiner Musik und insbesondere sein Klavierwerk bleiben zunächst unbekannt.
Dabei war es gerade die Verbindung von Malerei und Musik, für die der Litauer später so bekannt werden sollte. Čiurlionis, der sinnästhetisch Farben hörte und Klänge malte, hatte Anfang des 20. Jahrhunderts eine Brücke zwischen zwei künstlerischen Disziplinen gebaut.
Irgendwo zwischen Art-Deco, Expressionismus und Fin de Siècle schuf er eine ganz eigene Ästhetik, die später auch große Namen wie Kasimir Malewitsch oder Igor Strawinsky inspirierte.
Später Ruhm
Ein unabhängiges Litauen aber lernt Mikalojus Čiurlionis nie kennen. Der Mann, der an der Staffelei und am Klavier die Welt umarmen wollte, stirbt 1911 mit 35 Jahren an einer Lungenentzündung.
Große Bekanntheit erlangt seine Musik erst nach seinem Tod, in der kurzen Periode zwischen den beiden Weltkriegen. Als Litauen zwischen 1918 und 1940 für kurze Zeit unabhängig ist, bemüht man sich dort um eine Förderung der nationalen Kultur des kleinen Landes.
Mit dem Einmarsch der Roten Armee beginnt jedoch eine dunkle Periode der Unterdrückung. Das Erbe von Mikalojus Konstantinas Čiurlionis überdauert die Sowjetunion. Seit deren Ende im Jahr 1990 erleben seine Werke ein Revival über die Grenzen des kleinen Litauens hinaus.
Die Wellenberge seiner Gemälde und das Waldgeflüster seiner Musik sind heute wieder zu sehen und zu hören, in Vilnius wie auf der ganzen Welt.