Donaueschinger Musiktage 2014 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2014: "Inner Voicings"

Stand
Autor/in
Chiyoko Szlavnics
Übersetzung
Nele Haller (aus dem Englischen)

Musik Zeichnen

Meine Beschäftigung mit dem Zeichnen von Klängen, mit Linien, die den Klang in meiner Vorstellung darstellen, reicht weit in die Vergangenheit zurück. Höchstwahrscheinlich begann diese Beziehung zwischen Bild und Musik in meiner Kindheit, als ich Konzerte mit Neuer Musik in Toronto besuchte. Meine Mutter, die aus der bildenden Kunst kam, nahm mich mit in diese Konzerte. Sie war selbst interessiert an einer Vielzahl von Künsten und so brachte sie mich früh in Kontakt mit Veranstaltungen der Dichtkunst, zeitgenössischen Tanzaufführungen, Konzerten mit Neuer Musik und Ausstellungen. Den Konzerten lauschte ich mit geschlossenen Augen, damit ich mich voll und ganz auf die Klänge konzentrieren konnte. Vor meinem inneren Auge stellte ich mir die Musik als sich bewegende Linien und Formen vor: eine Art persönliche "Heim-Kino"-Erfahrung – ein privates "inneres Kino"! Wie bewegt Musik unsere Chemie? Wie kann uns eine bestimmte Kunstform inspirieren oder bewegen oder einen sogar zur Arbeit in einem anderen Kunstmedium inspirieren? Komponisten, die sich von der Literatur oder Malerei bzw. von Malern inspirieren ließen oder sogar Werke in einem anderen Medium geschaffen haben, haben eine lange Geschichte. Während man in einer anderen Kunstdisziplin arbeitet, denkt man anders – ganz als ob man in einer anderen Sprache spricht, deren Klänge und Strukturen anders sind. Und man bewegt sich auch physikalisch anders: Jede Kunstform verlangt unterschiedliche Werkzeuge, unterschiedliche Hilfsmittel – Papier, Leinwände, Farbe, Kugelschreiber oder Füller, oder einen Computer –, vielleicht sogar einen anderen Tisch oder Raum! Jedes Kunstwerk ist – ganz unabhängig vom Medium – eine innere Stimme von etwas, das im Künstler steckt.

Der Drang, Bilder für Kompositionen zu erschaffen, erwuchs ganz natürlich aus den oben beschriebenen frühen Erfahrungen. Das Gefühl, das beim Malen von Kompositionen entstand, war äußerst befriedigend, da ich mit zwei Kunstformen gleichzeitig arbeitete: Ich stellte mir Klänge vor und meine Hand führte den Stift, um sie wiederzugeben. Aber zugleich erschuf ich ein Bild, das einigen visuellen Regeln der Balance auf der Seite folgte. Als ich begann, solche Bilder zu erstellen, war es mir unbekannt, dass sich diese sehr fragilen und feingliedrigen Transkriptionen von imaginiertem Klang zu einem komplett autonomen Œuvre innerhalb des Bereichs der bildenden Kunst entwickeln würden und dass ich, zehn Jahre nachdem ich mit dem Zeichnen von Kompositionen begonnen hatte, auch ein Künstler der bildenden Kunst sein würde. (Die bildende Kunst war eigentlich der Bereich meiner Mutter gewesen. Nachdem sie Ende 2005 verstorben war, kaufte ich mit dem ersten Anzeichen des Frühlings unbearbeitete Leinwände, Farbpinsel und Ölfarbe und genoss schließlich das Gefühl, die Farbe und den Lack auf den Stoff aufzutragen und den Geruch einzuatmen, den ich so gut aus dem Atelier meiner Eltern kannte.)

Zeichnen war die Befreiung von meiner Tendenz, Musik zu komponieren, die wie Musik klang, die ich bereits kannte. Ich war daran interessiert, innerhalb der Grenzen und mit reduziertem Material zu arbeiten. Dies war entscheidend, um einfache Strukturen mit einer starken inneren Dynamik und einer fesselnden Gestalt zu erschaffen. Diese waren auf einen Blick in den Bildern sichtbar. Sie lieferten mir nicht nur die Basis für ein gesamtes Werk, sondern reflektierten auch konkret meine eigene Vorstellung von Musik in einer hoch-ästhetischen Form. Sie halfen mir, diese Vorstellung nicht aus dem Blick zu verlieren und halfen, mich "zu füttern", meine Inspiration und meine Energie durch ihre poetischen, beinahe feinfühligen, von Hand gezeichneten Linien und gleichzeitig durch ihre Gestalt zu erhalten. Aber am wichtigsten war, dass sie die Musik erzeugten, die ich am liebsten hörte – Musik mit sich elegant bewegenden Linien, die sich genug Zeit ließ, das Phänomen, das zwischen diesen Linien auftritt, zu empfinden.

Three Inner Voicings

Dieses neue Werk, das ich speziell für das Klangforum Wien komponiert habe, spiegelt drei verschiedene Arten von Bildern mit einem unterschiedlichen Maß von Dichte, Einfachheit und Komplexität wider. Der erste Teil ist brandneu und für mich ein ziemliches Experiment. Dieses Bild entpuppte sich als sehr dicht und beinhaltet Formen, die durch das Verbinden der Eckpunkte mancher Linien entstanden sind. Diese Formen stellten sich als unregelmäßig, geometrisch und einzigartig heraus. Aufgrund der Dichte des Materials beschloss ich, es zu vereinfachen, indem ich jede Form einzeln betrachtete, das Bild dann auseinandernahm und dann Raum zwischen den Formen hinzufügte.

Ich habe mir erlaubt, die einzelnen Formen viel freier zu interpretieren, als ich es in der Vergangenheit getan hatte, indem ich auf den Charakter sowie die Dynamik jeder Form oder Formgruppen einging. Dies und die Virtuosität des Klangforums Wien haben mich bei der Wahl der Instrumentation und der Tempi beeinflusst. Werden die Glissandi im ersten Teil den Innenbereich der Formen gut skizzieren oder werden sie wegen ihrer Schnelligkeit als musikalischer Gestus wahrgenommen? Wie genau kann man die visuelle Erfahrung eines solchen Bildes in der Musik widerspiegeln? Das ist das Experiment.

Im Gegensatz zum ersten Teil basiert der von mir als "Mater" bezeichnete zweite Teil auf einem Bild, das extrem reduziert ist. Dies ist typisch für meine frühere, bildbasierte Musik. Durch das reduzierte Material und die ausgedehnte Dauer ist es mir möglich, den Klang selbst genauer zu überwachen und erlaubt es dem Zuhörer, mehr Details in der Musik zu erkennen. Dieser Teil spiegelt eine bewusste Naivität wider, die ich nicht verlieren möchte und die meines Erachtens wichtig für das Wohl der Gesellschaft ist.

Der dritte Teil basiert auf einem eher verdichteten Bild, bestehend aus Linien, die zwar recht gleich verteilt sind, aber ab und zu in Clustern erscheinen. Die sich daraus ergebende Partitur nimmt diese Verteilung und Bündelung auf und bleibt dabei so nahe wie möglich an der Bildvorlage: Die Tonhöhen stehen für das, was die Hand gemalt hat, manche Instrumente erklingen gebündelt im Cluster, und manche erklingen alleine. Die, die im Cluster erklingen, geben den Takt an. Hinter dem Bild befindet sich ein vertikales Netz. Dieses Netz verändert sich mit der Zeit, wodurch es scheint, als ob das gesamte Bild in einem imaginären Raum frei schwimmt. Diese zusätzliche Ebene erzeugt einen visuellen Kontext und verändert, wie wir diese Linien wahrnehmen.

Stand
Autor/in
Chiyoko Szlavnics
Übersetzung
Nele Haller (aus dem Englischen)