Donaueschinger Musiktage 2008 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2008: "Die Tänzerin (Symphonie V)"

Stand
Autor/in
Brice Pauset
Übersetzung
Birgit Gotzes (aus dem Französischen)

"Die Tänzerin (Symphonie V)" für Orchester ist der zweite Teil eines Triptychons. Dessen erster Teil ist "Der Geograph (Symphonie IV)" für Orchester mit solistischem Klavier, im nächsten Jahr wird es mit "Erstarrte Schatten (Symphonie VI)" für Orchester, sechs Stimmen und Elektronik abgeschlossen.

Die zentrale Fragestellung des Projekts, die auch schon in einigen früheren Werken im Mittelpunkt stand (insbesondere in Vita Nova (sérénades), ist die nach dem Unmöglichen; ein Unmögliches, das nicht als eine Art von konkretem Leitgedanken gedacht ist (eine unmögliche Musik zu produzieren ist letztlich nur wenig interessant), sondern als ein Gedankenexperiment, das zur Konstruktion von musikalischen Dramaturgien führt, die gebrochen, unbequem, manchmal unlösbar sind, die es aber musikalisch wiederzugeben gilt.

Das Gedankenexperiment besteht in diesem Stück darin, das ästhetische Gefühl zu imaginieren, das die Bewegungen einer Tänzerin auf der Bühne produziert, die nicht aus dem normalen Blickwinkel des Publikums beobachtet wird, sondern mit Hilfe von wenig gebräuchlichen visuellen Mitteln von einem weit entfernten Planeten aus. Die choreographischen Bewegungen der Tänzerin mischen sich darum mit den Rotationsbewegungen des Planeten, auf dem sie sich bewegt, mit denen dieses Planeten um die Sonne, den Rotationsbewegungen der Sonne selbst und des sie umgebenden Systems und so weiter. Bei den sich daraus ergebenden Fragen geht es um Ästhetik (ab welchem Punkt geht das ästhetische Gefühl in die reine Beobachtung der Phänomene über?) und um die Frage nach der Fokussierung (die Tänzerin ist das kleinste Element der betrachteten Menge, dennoch steht sie für die ästhetische Erfahrung im Zentrum der Fokussierung).

Die Abfolge von Themen, die in "Der Geograph" durch die geografische Topologie, in "Die Tänzerin" durch die Choreographie miteinander verbunden sind, ist nicht zufällig. Im Frankreich des 17. Jahrhunderts gab es eine poetisch-technische Literatur, die explizit einen funktionellen und strukturellen Zusammenhang zwischen diesen beiden Techniken der Bewegung (analytisch im einen, synthetisch im anderen Fall) herstellte, ein Zusammenhang, aus dem ich in Erstarrte Schatten ein drittes Element ableiten werde: die Materie und deren Abwesenheit.

Die Musik, die ich aus diesen Überlegungen für Die Tänzerin entwickelt habe, ist selbstverständlich nur eine Lösung unter vielen; sie unterwirft sich keinem wissenschaftsgläubigen Befehl und lehnt auch jeden subjektivistischen Diskurs ab. Das Detail tritt in permanente Kollision mit den längsten Entwicklungen innerhalb eines Diskurses, der gegebenenfalls kulturell determinierte Archetypen aufruft.

Durch eine angeborene Neigung habe ich eine besondere Aufmerksamkeit für das Detail und sogar für sekundäre Phänomene, die sonst meist nicht beachtet werden. Beim Tanz faszinieren mich die Nebengeräusche ebenso sehr wie die Bewegungen im Raum und die durch den Körper ausgedrückten Affekte; solche Reibe- und Stoßgeräusche finden sich transponiert, komponiert und inszeniert in meiner Musik wieder.

Allgemeiner gesprochen interessiert es mich nicht einfach, modern zu sein: Modernität ist wesentlich ein Urteil, das im Nachhinein über einen bestimmten historischen Augenblick gefällt wird, niemals eine unwiderlegbare persönliche Haltung. Es bleibt also die Frage nach der Geschichte, jener, die wir ideologisch unterschiedlich gefiltert erben, jener, der gegenüber auch wir selbst, ob wir es wollen oder nicht, Handelnde sind; jener schließlich, von der wir träumen. Zum Wesen des Kapitalismus gehört der Faktor der unerwünschten Überproduktion. Die Befriedigung unserer Wünsche und Bedürfnisse und die wohlüberlegte Erfindung von neuen Bedürfnissen macht es möglich, aus dieser Überproduktion neue, scheinbar unentbehrliche Waren zu machen. Die Kultur macht von dieser Regel keine Ausnahme. Es ist mir sehr wohl bewusst, dass meine Musik (und die Kunst im Allgemeinen) diesem todbringenden Phänomen nicht die Kraft entgegensetzen kann, die ausreichen würde, es zu bremsen. Aber durch meine besonderen Möglichkeiten und im gegebenen sozialen und politischen Kontext angesichts dieser Situation unermüdlich die richtigen Fragen zu stellen, das könnte meinen mehr als bescheidenen Wunsch erfüllen, nicht als eine Art von "akzeptablem Parasiten" betrachtet zu werden.

Stand
Autor/in
Brice Pauset
Übersetzung
Birgit Gotzes (aus dem Französischen)